Bernhard Dietz / Christopher Neumaier / Andreas Rödder (Hgg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren (= Wertewandel im 20. Jahrhundert; Bd. 1), München: Oldenbourg 2014, 391 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-75386-8, EUR 49,95
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In den zurückliegenden Jahren hat die Zeitgeschichtsforschung intensiv über die Verwendung des Begriffs "Wertewandel" debattiert und nach dem Nutzen der sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse aus den 1970er und 1980er Jahren für die Zeitgeschichte gefragt. [1] Eine Mainzer Forschungsgruppe um Andreas Rödder hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine historische Wertewandelforschung zu entwickeln, wozu auch der vorliegende Sammelband einen Beitrag leisten möchte (und leistet). In einem längeren Vorwort bestimmen die Herausgeber den Begriff "Wertewandel" als die "Differenz zwischen dem zu zwei Zeitpunkten Sagbaren beziehungsweise Sanktionierten" (7). Diese Begriffsbestimmung zeigt bereits an, dass die Wandlungsprozesse in einer diachronen Perspektive untersucht werden sollen, um die Veränderungen von Werten und Wertsystemen nachvollziehen zu können.
Untergliedert ist der Band in einen theoretisch-methodischen und einen historisch-empirischen Teil. Das erste Hauptkapitel zu "Theorie und Methode" leitet Andreas Rödder mit einem anregenden konzeptionellen Aufsatz ein. Für eine historische Wertewandelforschung ist es aus Rödders Perspektive hilfreich, idealtypisch zwei Untersuchungsebenen zu unterscheiden: Beobachtungen erster Ordnung (der Gegenstände der sozialwissenschaftlichen Forschung) und zweiter Ordnung (der sozialwissenschaftlichen Forschung als Gegenstand). Die zweite Ebene konzentriert sich auf die historische Analyse von zeitgenössischen Selbstbeschreibungen und nimmt die sozialwissenschaftlichen Beobachter und Kommunikatoren von Wertewandelsprozessen in den Blick. Die erste Ebene thematisiert hingegen nicht die zeitgenössische Konstruktion eines beobachteten Wertewandels, sondern die sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände selbst. Um eine historische Wertewandelforschung betreiben zu können, schlägt Rödder des Weiteren ein Forschungsprogramm vor, welches er als "Wertewandelsdreieck" beschreibt. Dieses Dreieck besteht für den Mainzer Historiker aus folgenden Faktoren, die ständig aufeinander einwirken: "diskursiv verhandelte Werte", "institutionelle Rahmenbedingungen" und "soziale Praktiken" (31). Rödders Überlegungen stellen ein reflektiertes Plädoyer für eine Historisierung der Kausalitäten zwischen Werten, Praktiken und Akteuren sowie von Institutionen der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung dar.
Neben demjenigen Rödders setzen sich drei Beiträge im ersten Hauptkapitel mit der sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung auseinander und zeichnen bisherige Kontroversen in den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft nach (Helmut Thome, Ernest Albert, Michael Schäfer). Ein weiterer Beitrag von Norbert Grube verdeutlicht, wie gewinnbringend "Beobachtungen zweiter Ordnung" für die historische Wertewandelforschung sein können. Grube historisiert hierbei die Entstehungs- und Verwendungskontexte von Allensbacher Umfragen. Er legt dar, dass sich in Wertestudien der 1970er Jahre der bipolare Kontext des Kalten Krieges in dualistischen Fragekonstruktionen wie beispielsweise "Freiheit oder Gleichheit" und "Lebensgenuss oder Lebensaufgabe" (113) abbildete und somit Eindeutigkeiten suggerierte. Darüber hinaus ruft Grube in Erinnerung, dass die Allensbacher Umfragen von Vertretern des katholischen Milieus und von konservativen Sozialforschern initiiert wurden. Diese Studie macht deutlich, dass Fragebögen und Umfragen nicht nur Auskunft über die Befragten geben, sondern vor allem auch über die Fragensteller. Grube weist da in eine Richtung, die zukünftig noch weitere Untersuchungen einschlagen sollten.
Der zweite Teil des Sammelbands versammelt kurze historisch-empirische Studien. Die zehn Beiträge bieten ein breites Spektrum an Themen, welches von Konflikten um Mitbestimmung und Führungsstil in der Wirtschaft (Bernhard Dietz) über das Aufkommen neuer weiblicher Lebensentwürfe im US-amerikanischen Fernsehen der 1970er Jahre (Christina von Hodenberg) bis hin zu den ethischen Diskussionen um die Humangenetik (Dirk Thomaschke) reicht. Gegliedert ist dieser Teil in die Rubriken "Arbeit und Wirtschaft", "Familie National", "Familie International" sowie "Thematische Ausblicke". Die Beiträge befassen sich größtenteils mit den gesellschaftlichen, politischen und medialen Debatten um Wertewandlungsprozesse zwischen den 1950er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik, in Italien und Frankreich sowie den USA. Die vorliegende Heterogenität erschwert es dem Leser bei einigen Beiträgen, einen Konnex zur übergeordneten Fragestellung herzustellen. Jedoch muss man festhalten, dass sich die Mehrzahl der empirischen Studien innerhalb des von Rödder skizierten "Wertewandelsdreiecks" bewegen. Dabei werden Quellen erschlossen, die weit über das zeitgenössische sozialwissenschaftliche Material hinausgehen.
Jörg Neuheiser betrachtet beispielsweise für seine Analyse über Wertvorstellungen zur Arbeit die links-alternative Betriebszeitung "plakat", die im Daimler-Benz-Werk in Untertürkheim verteilt wurde. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei den vermeintlichen Postmaterialisten der 1970er Jahre - jenseits der Semantik - die "traditionellen Vorstellungen von Arbeit, ihrer Würde und Qualität" (165) bei den Werksmitarbeitern weiterhin Bestand hatten. Während Neuheiser die Kontinuität von Wertvorstellungen in Bezug auf Arbeit herausarbeitet, nimmt Isabel Heinemann den Wandel von Familienwerten in den Blick. Dabei untersucht sie für die USA öffentliche Debatten während der 1970er Jahre über die Abschaffung von Schuldscheidungen und die Abtreibungslegalisierung. Auf Grundlage dieser Debatten kommt Heinemann zu dem empirischen Befund, dass man "nicht umstandslos von einem tiefgreifenden Wertewandel" (281) um 1970 sprechen könne. Vielmehr plädiert die Münsteraner Historikerin dafür, in Bezug auf Familienwerte und Normen zukünftig die vielen kleinen Wertewandel zu thematisieren, diese in eine längerfristige Perspektive zu stellen sowie die konservativen Gegentrends mitzudenken. Auch Christopher Neumaier konstatiert in seinem Beitrag über die Reform des Ehescheidungsrechts in der Bundesrepublik, dass sich Wertewandel als konfliktreicher gesellschaftlicher Aushandlungsprozess darstellte, die nicht im Stillen verliefen. Der Vorstellung einer "Silent Revolution" stellt Neumaier eine "laute Revolution" (202) entgegen, die durch heftige Debatten um die nach gesellschaftlichen Teilgruppen divergierenden Werte zu Ehe, Familie und Ehescheidung in den 1960er und 1970er Jahren gekennzeichnet war. Die titelgebende Frage, ob es "den" Wertewandel gab, wird somit dahingehend beantwortet, dass man sehr unterschiedlich verlaufende und zeitversetzte Wertewandlungsprozesse in westlichen Gesellschaften zwischen den 1950er und 1980er Jahren beobachten kann.
Mit seiner konzeptionellen Einführung und seinen empirischen Zugängen hat der Sammelband für zukünftige Forschungen eine in viele Richtungen anschlussfähige Grundlage gelegt, um Wertewandlungsprozesse im 20. Jahrhundert zu untersuchen. Weiteren Studien bleibt es überlassen, die vielfältigen Impulse aufzunehmen, die zeitliche Dimension einer historischen Wertewandelforschung über den Untersuchungsschwerpunkt der 1960er/1970er Jahre auszudehnen und eine Fixierung auf westliche Gesellschaften zu überwinden.
Anmerkung:
[1] Siehe hierzu: Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), Nr. 4, 479-508; Bernhard Dietz / Christopher Neumaier: Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), Nr. 2, 293-304; Benjamin Ziemann: Sozialgeschichte und Empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum Ende einer Romanze, in: Pascal Maeder / Barbara Lüthi / Thomas Mergel (Hgg.): Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Mooser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, 131-149; Jenny Pleinen / Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), Nr. 2, 173-195.
Martin Stallmann