Siegfried Lautsch: Kriegsschauplatz Deutschland. Erfahrungen und Erkenntnisse eines NVA-Offiziers, Potsdam: ZMSBw 2013, VII + 212 S., ISBN 978-3-941571-28-0, EUR 29,80
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Stabsoffiziere sind eine häufig stark unterschätzte Bildungselite. Moderne Militäroperationen, die sich als tiefgestaffelte Land- und Luftschlachten mit einem breiten Spektrum von Kampfmitteln vollziehen, weisen eine enorme Komplexität auf. Die moderne Militärwissenschaft, die das gedankliche Handwerkszeug für Planung und Durchführung der Operationen liefert, ist denn auch eine vielfältige Mischung von Gesellschafts-, Natur- und technischen Wissenschaften. Schon seit dem 19. Jahrhundert benutzten Stabsoffiziere mathematische Modelle zur Grundlegung ihrer Planungen. Und es war mit Hans Delbrück ein preußischer Reserveoffizier, der Ende des 19. Jahrhunderts eine bis dahin allzu buchstabengläubige Geschichtsschreibung revolutionierte, indem er diese mathematischen Modelle auf die Schlachten der Antike und des Mittelalters anwandte.
Die bislang wohl komplexesten Militäroperationen, die von Stabsoffizieren durchdacht wurden, waren die zum Glück niemals geschlagenen Schlachten eines Dritten Weltkrieges. Im Falle eines solchen Krieges wären an der Demarkationslinie durch Deutschland hochmoderne Verbände in einer durch die schiere Masse der Vernichtungsmittel überaus brutalen Frontalschlacht aufeinandergestoßen. Auch ohne den Einsatz von Kernwaffen hätten Angreifer und Verteidiger in sehr kurzer Zeit enorme Verluste erlitten. Mit Siegfried Lautsch, von 1983 bis 1987 Leiter der Abteilung Operativ im Militärbezirk V der DDR, hat nun ein ehemaliger NVA-Offizier einen Bericht vorgelegt, der direkt für die Ausarbeitung der Kriegspläne der in der Mobilmachungsphase aus dem Militärbezirk V zu formierende 5. Armee der NVA zuständig war.
Lautschs Buch entzieht sich einer leichten Kategorisierung. Zum einen enthält es Elemente eines Erinnerungsberichts, da der Autor auch sehr plastisch seinen Werdegang schildert. Zum anderen rekonstruiert Lautsch seine seinerzeitige Planungsarbeit, wobei er ausführlich deren konzeptionelle Voraussetzungen in der sowjetischen "Kriegskunst" und ihre praktischen Grundlagen im Militärwesen des Warschauer Pakts beschreibt. Lautsch hatte aber wohl auch den Ehrgeiz, ein Handbuch zu schaffen, das durch eine Vielzahl von Grafiken und Tabellen, operative Skizzen, eine Liste taktischer Zeichen, ein Glossar, faksimilierte Dokumente und einen Bildkatalog der Hauptwaffensysteme der 5. Armee ein vorzügliches Hilfsmittel für weitere Forschungen liefert. Dem mit der Militärpublizistik der DDR vertrauten Leser erscheint das Buch wie ein östliches Gegenstück zu dem Band "Die Streitkräfte der NATO auf dem Territorium der BRD"[1], der den NVA-Offizieren seinerzeit Militärpotential und Einsatzgrundsätze der NATO näher bringen sollte.
Interessant ist auch, was Lautsch, der bis 2007 bei der Bundeswehr weiterdiente, über sich selbst berichtet, dürften doch die von ihm gemachten Erfahrungen für das höhere Offizierskorps der NVA exemplarisch sein. Besonders das Kommandeursstudium an der sowjetischen Militärakademie "M.V. Frunze", das er von 1976 bis 1980 absolvierte, schildert Lautsch eindrücklich. Durch die Auswahl vorzüglicher Dozenten, von denen viele noch im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, vermochte diese Bildungseinrichtung offenbar einen erheblichen pädagogischen Eros zu entfalten: "Die meisten Offiziere, die an der, Frunze-Akademie' studierten, haben bis heute ein sehr emotionales Verhältnis zu dieser militärischen Bildungseinrichtung." (54) Dazu trug vermutlich die große Offenheit an der Militärakademie bei.
Der Dozent für Militärgeschichte war ein Stalingrad-Veteran. Die Schlacht brachte er den NVA-Offizieren bei einer Exkursion nach Wolgograd auch sehr nüchtern als Leidensgeschichte der Soldaten beider Seiten und der Zivilbevölkerung nahe: "Der Dozent bemerkte, dass es in der Gewalt des Krieges keine Grenzen zwischen Front und Hinterland, Soldaten und Zivilisten gäbe. Von beiden Seiten wären Kriegsverbrechen begangen worden." (60) Trotz solcher Blicke in den Abgrund blieb das Fach Militärgeschichte anwendungsorientiert: Die Operation "Bagration", die 1944 zur Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Mitte geführt hatte, galt als Bezugspunkt für die Offensivschlacht, die der Warschauer Pakt bis Mitte der 1980er Jahre im Kriegsfall zu führen gedachte. Ob die 5. NVA-Armee die gegenüberliegenden NATO-Truppen mit ähnlicher Geschwindigkeit durchstoßen hätte wie 1944 die Sowjetarmee die ausgebrannten Wehrmachtsverbände, erscheint indessen fragwürdig. Vermutlich hätte die erste Staffel des Warschauer Pakts die NATO-Verteidigung aber soweit abgenutzt, dass den nachgeschobenen Sowjettruppen ein entscheidender Durchbruch gelungen wäre.
Ausführlich rekonstruiert Lautsch die geplanten Kernwaffeneinsätze. Die Bereitschaft des sowjetischen Oberkommandos, Panzer und Motorschützen schon nach kurzer Zeit durch kontaminierte Räume angreifen zu lassen, erscheint ihm jetzt als "eine Verharmlosung der unmittelbaren Wirkung und der folgenschweren Auswirkungen des Kernwaffeneinsatzes" (95). Aufgrund ihrer Kriegserfahrungen kalkulierten die Sowjetgenerale aber vermutlich damit, dass ein Sieg nicht ohne sehr hohe Verlusten zu erringen sei.
Während die Kriegsplanung 1983 noch dem Angriffsdenken der alten sowjetischen Militärdoktrin folgte, waren die Pläne, die Lautsch 1985 und 1987 erstellte, defensiver Natur. Die verbreitete Vorstellung, das sowjetische Militär habe erst unter dem Druck Gorbatschows von seiner Offensivplanung Abschied genommen, erweist sich angesichts des 1985 vollzogenen Wechsels zur Verteidigung als fragwürdig. Vermutlich reagierte der sowjetische Generalstab mit der Umstellung auf ein Kräfteverhältnis, das sich durch die Modernisierungsprogramme der NATO, die Krise in Polen sowie die immensen Modernisierungsprobleme der sozialistischen Volkswirtschaften unaufhaltsam zuungunsten des Warschauer Pakts verschob.
Bei der Beschreibung der Kriegsplanungen betont Lautsch immer wieder den kreativen Charakter seiner Arbeit. Im Ernstfall hätten die Operateure die Planungen überdies einer sich kurzfristig ändernden Lage anpassen bzw. sogar völlig neu entwerfen müssen. Der Zwang zu einer möglichst zeitnahen Entschlussfassung stellte die Warschauer-Pakt-Stäbe im Laufe der 1980er Jahre vor wachsende Probleme, da die notwendige Beschleunigung der Arbeit nur noch durch eine Automatisierung der Führungstätigkeit zu erreichen war, für die die notwendige Computerausstattung fehlte.
Für den Leser sind Lautschs Rekonstruktionen seiner Planungen nicht immer eine angenehme Lektüre, da es sich dabei oft um detaillierte Aufzählungen der in den Bereitstellungsräumen massierten Kräfte handelt. Ein geschichtswissenschaftliches Werk hat Lautsch sicherlich nicht vorgelegt, dafür aber ein militärisches Fachbuch.
Anmerkung:
[1] Wolfgang Weber: Die Streitkräfte der NATO auf dem Territorium der BRD, 2. Auflage, Berlin (Ost) 1986.
Michael Ploetz