Rezension über:

Utz Maas: Was ist deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart: UTB 2014, 556 S., ISBN 978-3-8252-8560-9, EUR 49,99
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Rezension von:
Anja Voeste
Justus-Liebig-Universität, Gießen
Empfohlene Zitierweise:
Anja Voeste: Rezension von: Utz Maas: Was ist deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart: UTB 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/25572.html


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Utz Maas: Was ist deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland

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Eine Sprachgeschichte aus der Hand von Utz Maas weckt hohe Erwartungen, gilt ihm doch die sozialhistorische Einbettung sprachlicher Phänomene ebenso viel wie deren theoretische Durchdringung. "Was ist deutsch?" richtet sich allerdings nicht in erster Linie an ein akademisches Publikum. Maas bettet seine Sprachgeschichte in den Kontext der politischen Debatte um die "deutsche Leitkultur" ein. Er sucht den nationalromantischen Klischeevorstellungen entgegenzutreten, das Deutsche habe sich von einer Barbaren- zu einer Weltsprache entwickelt. Die Nationalsprache als ein überaus wertvolles Gut, das nun vor "fremden" Spracheinflüssen geschützt werden müsse: Diese altehrwürdige Imago einer nationalen deutschen Schriftkultur ist ein Fetisch, der, so Maas, bis heute als Instrument der Ausgrenzung von Einwanderern und bildungsfernen Schichten diene. Unübersehbar seien hier die Kontinuitäten seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere mit Blick auf den schulischen Deutschunterricht, der die sprachständischen Unterschiede befestige und sie "zu einem Schlüsselmoment der Selbstintegration der Menschen in die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit" (134 f.) mache.

So ehrenwert die engagierte Dekonstruktion der nationalen Imago und die Anprangerung ihrer praktisch-politischen Konsequenzen anmutet: Werden hier nicht zu beträchtlichen Teilen die kulturkämpferischen Debatten der frühen 1970er Jahre wiederaufgeführt? Rennt Maas nicht Türen ein, die längst mehr als nur einen Spalt offenstehen? Dies soll beileibe nicht heißen, dass all die komplexen Probleme auf dem weiten Feld der sprachlichen Akkulturation sich in Wohlgefallen aufgelöst hätten. Aber ein Blick in Statistiken und Hörsäle lässt eben doch Zweifel daran aufkommen, dass Jugendlichen mit Migrationshintergrund systematisch der Zugang zu höherer Bildung verwehrt werde. Übrigens werden zumindest jüngere Leser mit der von Maas noch einmal aufgespießten Debatte um die "deutsche Leitkultur" kaum mehr etwas anzufangen wissen; im Zentrum des öffentlichen Diskurses steht der Begriff jedenfalls seit Längerem nicht mehr.

Vom Gegenstand zur Methode: Maas präsentiert die Geschichte der deutschen Sprache rückschreitend, in Epochen-Blöcken. So soll die teleologische Perspektive, wie sie ja eigentlich in der Vorstellung von der Imago als der Entfaltung eines nationalen Programms durch die Zeiten steckt, vermieden werden. Zweifellos hat diese Darbietungsweise den Vorteil, dass der Leser im zeitlich Vertrauten abgeholt und nicht gleich eingangs in die germanische Vergangenheit verschleppt wird. Aber der Krebsgang ist, fatalerweise, kein wirksames Antidot gegen Teleologie - im Gegenteil: Ausgerechnet diese wird dem Autor, à contrecæur, durch die Rückwärtsbewegung aufgedrängt. Denn wenn die Zukunft jeweils schon bekannt ist, schon "steht", dann erscheint es müßig, im zeitlich vorangehenden Block die womöglich noch bestehenden sprachlichen Entwicklungsoptionen zu diskutieren. Dort, wo der Leser herkommt, ist ja alles bereits festgeklopft. Zudem insinuieren die Zeitblöcke Abgeschlossenes; diese "Container" erschweren massiv die Wahrnehmung von Kontinuitäten über die Blöcke hinweg. Auch das passiert à contrecæur, denn Maas geht es auch und gerade um diese Verbindungslinien. Auf einer Hauptkontinuitätsstraße entwickelt sich hier das "Projekt Deutsch": Seit den Straßburger Eiden, also seit dem frühen Mittelalter, wird durch die Sprach- und vor allem auch die Schreibarbeit einer langen Reihe von literati und Gebildeten der Ausbau des Deutschen vorangetrieben. Unglücklicherweise importiert aber ausgerechnet diese Rede vom "Projekt Deutsch" quer durch die Zeiten wieder teleologisch-nationalgeschichtliches Denken.

Innerhalb der einzelnen Blöcke wirkt die Darstellung manchmal erratisch. Ein Problem dieses Buches ist die Unentschiedenheit des Autors hinsichtlich seines eigentlichen Gegenstands. Es gibt hier, erstens, ein ziemlich "großes Konzept": Sprachgeschichte beinahe als histoire totale der sprachlichen Verhältnisse - als solche Teil der allgemeinen Geschichte und nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedingungen in toto zu verstehen. Diese kommen dann allerdings nur im Medium historischen Handbuchwissens ins Spiel. Hier fehlen weitestgehend die Brückenschläge und Vermittlungen, um deren Bedeutung für die Sprachentwicklung zu verstehen. Und dann gibt es, zweitens, das "kleine Konzept". Hier geht es um einen sehr viel engeren Ausschnitt: den "nationalen Anteil" an der Sprachgeschichte (im Sinne der Entstehung der Hoch- bzw. Schriftsprache) kombiniert mit dem exemplarischen Blick auf "Spracharbeit" und die regionalen Sprachverhältnisse. Auf dieser Schiene mutet die Auswahl der Einzelthemen und Aspekte arg selektiv an. Weil die Darstellung zwischen "großem" und "kleinem" Konzept unentschieden oszilliert, wirkt sie im Ensemble nicht stringent. Ungeachtet dessen liest man so manche Detailanalyse mit großem Gewinn. Bekanntes wird aus neuen Blickwinkeln betrachtet, bisher ohne Vorkenntnisse nicht Zugängliches (zum Beispiel das Exotikum der deutschen Texte in hebräischer Schrift) wird mit großer Expertise nachvollziehbar erläutert. Ebendies gilt für die Auseinandersetzung mit der Bildungssprache Latein oder für die Herausbildung orthographischer Besonderheiten: Hier stehen dann die luziden Interpretationen, die man von Utz Maas kennt und sich von "Was ist deutsch?" erhofft hatte.

In einer Hinsicht wird die Lektüre dieses Buches allerdings unübersehbar erschwert: Maas' Sprachgeschichte ist ein Opfer schneller Produktionspraktiken; man vermisst die gute alte Lektoratsarbeit. Schwankende Datierungen (wie die des Berliner Mauerbaus) nimmt man vielleicht noch hin, ebenso die orthographische Varianz, etwa von Kietzsprache und Kiezsprache. Dass Adelung schon vor den Grimms das "Deutsche Wörterbuch" verfasst haben soll, kann mit Blick auf den Autor Maas nur ein - trotzdem ärgerlicher - Flüchtigkeitsfehler sein. Das akademische Fachpublikum muss nicht zweimal darüber aufgeklärt werden, dass in der Schweiz in unterschiedlichen Kantonen insgesamt vier Sprachen gesprochen werden oder dass der "Austriazismus" von lateinisch Austria für Österreich abgeleitet ist. Der sprachhistorische Laie wiederum wird einmal auf ein schwindelnd hohes theoretisches Reflexionsniveau hinaufgeführt, dann wieder in die tiefen Abgründe linguistischen Spezialwissens zu den tautosyllabischen Anschlusskorrelationen hinabgestoßen.

Wird dem Leser seine Lektüre also passagenweise nicht gerade versüßt, so sind andere Abschnitte, gelinde gesagt, versalzen: Als Autor von "Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand" (1984) und "Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945" (2010) äußert sich Maas zum nationalsozialistischen Antisemitismus nämlich überaus unglücklich (95): Die Nationalsozialisten forcierten den "zeitgenössischen ethnischen Antisemitismus, der auf Segregation abstellte" - dass "Segregation" im nicht so freundlichen Klartext die konsequent bürokratisch-perfektionistische Entrechtung der Juden im Alltag des "Dritten Reiches" inklusive wirtschaftliche Arisierung bedeutete, müsste hier unbedingt mitgesagt werden. Auch verfiel das Regime auf seine rassistische Vernichtungspolitik nicht einfach nur, nachdem und weil die Segregation an "Weltkriegsproblemen" und am Antisemitismus in potenziellen Auswanderungsländern gescheitert war. Die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus belief sich keineswegs auf sechs Millionen; dies wäre die Zahl lediglich der jüdischen Opfer. War die Zielsetzung des Zweiten Weltkriegs tatsächlich die Etablierung Deutschlands als "Führungsmacht im geeinten Europa"? Man mag wohlwollend sagen, die allgemeine Geschichte der nationalsozialistischen Zeit gehöre nicht zu Maas' Kerngeschäft. Aber wenn viele, und vor allem so hochsensible Details schief geraten, wirft dies ein ungünstiges Licht auf das Gesamtunternehmen. Hier hätte eine fachkundige und hellhörige Textredaktion vieles zurechtrücken müssen und manche Irritation vermeiden können.

Ungeachtet aller nicht unerheblichen Einwände ist dieses Buch eine neue, erfrischende Stimme im Chor der Sprachgeschichten. Mag das Verhältnis von Gesamtkonzept und Einzelkapiteln nicht immer nachvollziehbar sein und die Darstellung in Zeitblöcken die Entwicklungslinien mitunter empfindlich stören, Maas hat uns eine Sammlung wertvoller Detailanalysen beschert, wie sie kaum eine Sprachgeschichte vorweisen kann.

Anja Voeste