Rezension über:

Hans-Werner Goetz: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert), Berlin: Akademie Verlag 2013, XII + 942 S., 2 Bde., ISBN 978-3-05-005937-2, EUR 44,80
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Rezension von:
Stephan Waldhoff
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Leibniz-Edition, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Waldhoff: Rezension von: Hans-Werner Goetz: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert), Berlin: Akademie Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24855.html


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Hans-Werner Goetz: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert)

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Hans-Werner Goetz untersucht die "Wahrnehmung anderer Religionen" aus der Sicht der lateinischen Kirche des 5. bis 12. Jahrhunderts, also von der ausgehenden Väterzeit bis in die Anfänge der Scholastik. Dank der personellen Ausstattung, die ein dreijähriges 'Advanced Grant' des European Research Council bot, und vor allem der Möglichkeiten der EDV konnte ein Quellenkorpus untersucht werden, für dessen Erschließung es früher eines Gelehrtenlebens bedurft hätte. Ein Druckkostenzuschuss hat den ausgesprochen günstigen Preis ermöglicht.

Bescheiden als "das vorläufige Resultat" (XI) dieses Forschungsprojekts bezeichnet Goetz seine zwei Bände mit rund 830 Textseiten (allerdings in recht großer Drucktype) umfassende Darstellung. In fünf Kapiteln untersucht er die Sicht der lateinischen Christen auf Heiden, Muslime, Juden, Häretiker und die griechisch-orthodoxe Kirche. Dabei geht er von der Terminologie, den Attributen, die der jeweiligen Gruppe beigelegt wurden, einzelnen Facetten des Heiden- oder Judenbildes usw. aus, um am Ende des jeweiligen Kapitels die Einzelbeobachtungen zusammenzufassen. Die Abfolge der Kapitel entspricht der zunehmenden Nähe der beobachteten Gruppe zum Standpunkt der beobachtenden lateinischen Christenheit. Das letzte Kapitel bietet eine "Vergleichende Schlussbetrachtung".

Der Rezensent muss bekennen, dass ihn die Lektüre ziemlich unbefriedigt zurückgelassen hat, obwohl er einiges aus ihr lernen konnte. Woran liegt das? Es liegt weniger an zwei Kritikpunkten, die eher auf der Hand liegen und die zuerst angesprochen werden sollen, als vielmehr ganz grundsätzlich am Aufbau der Darstellung.

Ein Kritikpunkt, der sich so aufdrängt, dass er bereits den Autor zu einer Rechtfertigung veranlasst hat, ist die Charakterisierung von Häresie und griechisch-orthodoxer Kirche als 'andere Religionen'. Vergleichsweise weniger problematisch ist dies für die Häresie(n). Zwar lässt sich von Häresie zuerst einmal nur in Bezug auf eine bestimmte Religion sprechen, aber es gab immerhin zu Beginn (Arianer, Donatisten, Adoptianisten) und gegen Ende (Katharer, Waldenser) des Untersuchungszeitraums große Gruppen oder gar Kirchen, die von der sich als rechtgläubig verstehenden als häretisch abgelehnt wurden. Allerdings läge es hier näher, mit Karl August Fink von anderen "Konfessionen" zu sprechen. [1]

Noch weniger leuchtet diese Charakterisierung bei der griechisch-orthodoxen Kirche ein. Die Zweifel werden durch die Lektüre keinesfalls behoben - vielmehr noch verstärkt, zumal Goetz mit der neueren Forschung den Bruch von 1054 relativiert (etwa 685). Differenzen und Animositäten zwischen griechischen und lateinischen Christen brauchen nicht relativiert zu werden, um deren Behandlung in diesem Rahmen als verfehlt anzusehen. Zum einen war die lateinische Kirche im frühen Mittelalter ja keineswegs so homogen, dass sich die Griechen so eindeutig von ihr abgehoben hätten, etwa in Gebräuchen und Liturgie (man denke nur an die unterschiedlichen Liturgiefamilien neben der (stadt-)römischen oder an den abweichenden Ostertermin in Irland) oder in Fragen der Kirchenorganisation und der Bedeutung des Papsttums (die im sogenannten Investiturstreit im Westen ja ebenfalls hart umkämpft waren). Zum anderen waren die Fronten geografisch-kulturell nicht so einfach festzulegen, stand der Papst in der Bilderfrage den Byzantinern doch näher als der Synode von Frankfurt (794) und den Libri Carolini.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Frage, ob Goetz die Bedingungen, unter denen die anderen Religionen in das Blickfeld der lateinischen Christenheit gerieten, nicht stärker differenzierend hätte herausarbeiten sollen. Dies gilt besonders für das Judentum. Er behandelt diese Frage durchaus, aber nicht immer mit dem nötigen Problembewusstsein. Wenn er erklärt: "Anders als mit dem Islam [...] gab es mit den in der Diaspora im Abendland lebenden Juden ständig intensive Berührungen." (411, vgl. auch 564ff., 785), kann man nicht nur fragen, wie intensiv diese Berührungen auf religiösem Gebiet tatsächlich waren, sondern auch, ob damit ein grundlegenderer Unterschied in der Wahrnehmung der Juden und der Muslime, Heiden usw. nicht verdeckt wird. War das Judenbild tatsächlich durch das geprägt, was man vom religiösen Alltag zeitgenössischer jüdischer Gemeinden erfuhr oder nicht vielmehr von dem, was man aus dem - durch die christliche Brille gelesenen - Alten Testament zu wissen glaubte? [2] Letzteres ist wohl vor allem die Quelle des christlichen Judenbildes gewesen. Jeremy Cohen hat das auf den Begriff des "hermeneutical Jew" gebracht [3], und Amos Funkenstein hat eine Epoche verschärfter Judenfeindschaft mit dem im 12. Jahrhundert einsetzenden Studium hebräischer Texte durch christliche Theologen erklärt, die nun erkannt hätten, dass deren religiöse Positionen nicht dem entsprachen, was man traditionell dafür gehalten hatte. [4] Auch in anderer Hinsicht hob sich das Verhältnis zum Judentum von dem zu anderen Religionen ab, dadurch nämlich, dass die Kirche sich als das 'wahre Israel' verstand. Davon und was das für sein Thema bedeutet, findet man bei Goetz kein Wort.

Das Hauptproblem des Werkes liegt jedoch nicht in diesen beiden Punkten, sondern - grundsätzlicher - in seinem gesamten Aufbau. Der Rezensent hat den Eindruck gewonnen, dass es Goetz letztlich nicht gelungen ist, sein umfangreiches Material in den Griff zu bekommen. Die nahe liegende Vermutung, er sei der Fülle der Belege nicht Herr geworden, erweist sich jedoch als zu kurz gedacht, das Problem liegt tiefer. Es geht wohl auf zwei miteinander zusammenhängende Ursachen zurück.

(1.) hat die angewandte Arbeitsmethode zwar einen sehr umfangreichen, auf anderem Wege kaum zu erhebenden Datenbestand produziert. Sie führt aber zu einer gewissen Dekontextualisierung der einzelnen Informationen. Wenn die untersuchte Stelle in der Interpretation nicht wieder in ihren Argumentationszusammenhang gestellt und aus ihm gedeutet wird, lassen sich Missverständnisse häufig kaum vermeiden.

(2.) mangelt es an einer systematischen theologischen Durchdringung des Stoffes. Man wird einwenden, es handele sich ja auch nicht um eine theologische Darstellung. Trotzdem verlangt gerade Goetz' vorstellungsgeschichtlicher Ansatz, der davon ausgeht, "daß die Vorstellungen [...] ganz entscheidend Struktur, Darstellung, Tendenz, Horizont und Weltbild unserer Quellen bestimmen" (7f.), ein Eingehen auf jene theologischen Überzeugungen, welche die Sicht auf Heiden, Muslime, Juden usw. geprägt haben. Die in der Einleitung formulierte Einsicht: "Es gibt keine Fremdwahrnehmung ohne Rekurs auf das Eigene" (11), spiegelt sich leider weder in der Quelleninterpretation noch in der Organisation der Darstellung in ausreichendem Maße wider.

Auf die Darstellung wirken sich die beiden Defizite insofern aus, als ihr an sich ja durchaus einleuchtender Aufbau nicht funktioniert, wie die Lektüre zeigt. Das, was bereits zum Verständnis der Terminologie notwendig wäre, wird nämlich häufig zunächst gar nicht, im Fortgang der Darstellung dann unzusammenhängend und bruchstückhaft und selbst in den abschließenden Zusammenfassungen häufig nicht ausreichend erklärt. Man kann dem Autor nur recht selten vorwerfen, er habe diesen oder jenen wichtigen Punkt nicht angesprochen. Angesprochen wird fast alles - irgendwo und irgendwann. So wie die Quellenbelege dekontextualisiert werden, erscheinen die zu ihrem Verständnis gebotenen Informationen manchmal geradezu atomisiert.

Die unzureichende theologische Durchdringung des Materials stellt freilich nicht nur ein Problem für den Leser dar, vielmehr dürfte manche unglückliche, missverständliche oder falsche Formulierung auf ihr Konto gehen. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht die Behandlung der biblischen Grundlagen etwa des Heiden- oder Judenbildes. Obwohl die Bibelexegese regelmäßig herangezogen wird, werden Bibelstellen nur unregelmäßig und eher zufällig angeführt. [5] Das ist nicht nur misslich für die Leser, sondern bereits für den Autor, wie einzelne Fehlinterpretationen zeigen. [6] In der Mehrzahl führen die fehlenden Bezüge auf Bibelstellen zwar nicht zu expliziten Fehlern, aber ein tieferes Verständnis zahlreicher Quellenstellen wird gleichwohl behindert.

Ebenso symptomatisch ist, dass (wenn der Rezensent recht gesehen hat) die große heilsgeschichtliche Interpretation, die Paulus in Röm 9-11 entwirft und die für das Selbstverständnis der Kirche aus Juden und Heiden von eminenter Bedeutung war, weder bei der Behandlung der heilsgeschichtlichen Deutung der Heiden, noch der Juden, noch sonst im ganzen Werk erwähnt wird - jedenfalls nicht vom Autor (in den Quellenzitaten finden sich erwartungsgemäß Anspielungen darauf). Wegen der fehlenden oder unzureichenden theologischen Unterfütterung bleiben die Einzelinterpretationen recht uniform und oberflächlich, die zusammenfassenden Deutungen ziemlich farblos und undifferenziert. Dass etwa das Heidenbild weitgehend von Stereotypen geprägt gewesen sei, ist nicht falsch, allerdings sind die herangezogenen Belege doch etwas weniger stereotyp als der ständige Hinweis auf ihren stereotypen Charakter. Indem Goetz sich mit dem Hinweis auf Stereotypen begnügt, ohne im Detail nach deren Herkunft zu fragen, bleibt letztlich im Dunkeln, woher die mittelalterlichen Autoren ihre Voreingenommenheiten bezogen.

So wird das Werk wohl eher wegen der gesammelten Quellen und seiner Literaturhinweise, also als 'Steinbruch' benutzt werden. Hier hat es einiges zu bieten (allerdings sollte sich der Nutzer nicht in jedem Fall blindlings auf Goetz' Paraphrasen und Übersetzungen verlassen). Versteht man die im Vorwort gebotene Charakterisierung als "vorläufige[s] Resultat" (XI) in diesem Sinne, kann man sagen, dass das Buch eine breite Basis und reiche Fundgrube bietet für darauf aufbauende Untersuchungen, denen es gelingen möge, das Thema tiefer zu durchdringen und geschickter darzustellen.


Anmerkungen:

[1] Karl August Fink: Papsttum und Kirche im abendländischen Mittelalter, München 1981, 3. Kapitel: "'Häresie' und 'Ketzerei' als mittelalterliche christliche Konfessionen".

[2] Hier fehlt es wohl auch an Problembewusstsein, wenn Goetz schreibt, dass "[...] die Juden strikt an den alten, alttestamentlichen Bräuchen festhielten" (412).

[3] "In order to meet their particular needs, Christian theology and exegesis created a Jew of their own, and this book investigates the medieval history of such a hermeneutically and doctrinally crafted Jew [...]" (Jeremy Cohen: Living Letters of the Law. Ideas of the Jew in Medieval Christianity, Berkeley / Los Angeles / London 1999, 2).

[4] Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt/M. 1995, 242f. Goetz bezweifelt allerdings die Verschärfung der Judenfeindschaft seit dem 12. Jahrhundert (801f.).

[5] In dieses Bild passt, dass die Angaben der Bibelstellen mal die deutschen (z.B. 50, Anm. 73), mal die lateinischen Titel (z.B. 44) der biblischen Bücher abkürzen. Auf zwei gegenüberliegenden Seiten werden die Psalmen einmal in der Zählung der griechischen und lateinischen (76, Anm. 175), das andere Mal nach jener der hebräischen Bibel (77, Anm. 181) zitiert.

[6] Goetz führt z.B. als Beleg für die "Wut" (168), welche den Heiden als typische Eigenschaft zugeschrieben worden sei, eine Wendung aus Alcuins Vita Willibrordi an: "filios irae filios fecit esse misericordiae" (169, Anm. 588). Das spielt, von ihm nicht beachtet, auf Eph 2,3ff. an. Der Zorn ist demnach der Zorn Gottes. Für die Aussage, die er stützen soll, ist der Beleg also wertlos.

Stephan Waldhoff