Paolo Macry: Unità a Mezzogiorno. Come l'Italia ha messo assieme i pezzi, Bologna: il Mulino 2012, 155 S., ISBN 978-88-15-23990-7, EUR 13,50
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Keine italienische Stadt ohne Via Mazzini, Piazza Cavour, Viale Garibaldi - der nationale Mythos vom heroischen Risorgimento und der Erfolgsgeschichte des italienischen Staats, wie er in den Jahren zwischen 1859 und 1870 entstanden ist, hat seine Wirkungskraft im "offiziellen" kulturellen Gedächtnis Italiens bis heute weitgehend ungebrochen behauptet. Die sogenannte "revisionistische Geschichtsschreibung" hingegen, die den historischen Wahrheitsgehalt der Einigungsmythen grundsätzlich bestreitet und stattdessen auf die Kosten und die Verlierer des Risorgimento hinweist, kommt in der Regel aus dem außeruniversitären Ambiente und argumentiert in einem zwar aufmerksamkeitsheischenden, aber nicht selten das Hysterische streifenden Ton.
Angesichts der Tatsache, dass die Debatte um die Entstehung des italienischen Staats und die langfristigen Folgen, die dieser Entstehungsprozesses für die Geschichte Italiens bis in unsere Gegenwart zeitigte, entweder gar nicht oder aber in mehr oder weniger populistischer Form geführt wird, ist das Buch, das Paolo Macry, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Neapel, vorgelegt hat, gar nicht genug zu begrüßen. Klug, knapp und konzentriert gelingt es dem Autor in seinem essayartigen Überblick, die wesentlichen Voraussetzungen, Faktoren und Ereignisse der Eroberung des Königreichs beider Sizilien durch Piemont als dem zentralen und folgenreichsten Ereignis innerhalb des Einigungsprozesses zu skizzieren, um sodann auf die wesentlichen gesellschaftlichen Auswirkungen dieses historischen Geschehens in den Jahren 1860 und 1861 zu sprechen zu kommen.
Schon das Inhaltsverzeichnis der Studie lässt erkennen, dass der Autor sein Material beherrscht und entsprechend sicher zu disponieren versteht. Nach einer recht ausführlichen Einführung, in der Macry darauf verweist, dass die Geschichte Italiens grundsätzlich eine Erfolgsgeschichte gewesen sei (insofern nämlich, als das Land heute zu den weltweit führenden Industrienationen zählt), dieser Erfolg aber in mancher Hinsicht geradezu überraschen könne und auf jeden Fall mit beträchtlichen Kosten zustande gekommen sei, folgen vier Hauptkapitel mit den Titeln: "Der Süden. Ein fremdes Land"; "Sizilien. Feuer für das Pulverfass"; "Neapel. Geschichte eines politischen Selbstmords" und "Italien. Ein Epilog von 150 Jahren Dauer".
Ausgehend von dem positiven Echo, das der italienische Einigungsprozess bei zeitgenössischen deutschen Intellektuellen wie Heinrich von Treitschke fand, unterstreicht Macry zunächst die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert und die spezifischen Schwierigkeiten, mit denen es Camillo Benso di Cavour als spiritus rector der italienischen Einigung zu tun hatte: die grundlegenden gesellschaftlichen Differenzen zwischen dem vergleichsweise fortschrittlichen Norden und dem archaischen Süden; dessen wirtschaftlicher Eigentümlichkeit mit einer zwar "rückständigen" und weitgehend agrarisch geprägten, aber autarken Struktur (übrigens mit gesunden und exzellent verwalteten Finanzen); die außenpolitische Isoliertheit und die daraus resultierende außerordentlich schlechte Presse, die das Königreich beider Sizilien im übrigen Europa hatte: alles Faktoren, die beim unerwartet raschen und fast widerstandslosen Zusammenbruch der Bourbonen-Herrschaft 1860/61 eine Rolle spielten.
Dieser Zusammenbruch erfolgte in zwei Phasen: Zunächst der Eroberung Siziliens durch den charismatischen Abenteurer Giuseppe Garibaldi und seine "Mille" im Sommer 1860, die angesichts der militärischen Machtverhältnisse nur verständlich wird, wenn man den ausgeprägten Hass der Sizilianer gegen die als Fremdherrschaft empfundene Regierung von Neapel aus ebenso in Rechnung stellt wie die Bereitschaft der Inselbewohner zu gewalttätigem Widerstand. Dass auch Bestechung, Desertion und Verrat der gesellschaftlichen und vor allem militärischen Elite des Südens eine schwer nachzuweisende und ebenso schwer zu gewichtende, gewiss aber zentrale Rolle spielten, deutet der Autor lediglich an. Macry zitiert zwar einen bemerkenswerten Satz Massimo D'Azeglios: "Niemand schätzt Garibaldi mehr als ich, aber wenn eine Armee von 60.000 Mann besiegt und ein Königreich mit 6 Millionen Einwohnern erobert wird, bei Verlust von acht Mann, muss man davon ausgehen, dass etwas nicht Alltägliches dahinter steckt" [1] hält die damit angesprochene systematische Korrumpierung der bourbonischen Führungselite durch die Piemontesen jedoch für "nicht entscheidend" - hier wäre wohl ein Deutungs-Akzent ein wenig anders zu setzen.
Denn deutlicher wird das bemerkenswert geringe Ausmaß der Bindung sozialer Führungsgruppen an die Herrscherdynastie bei der Schilderung der Ereignisse, die zum Ende der Bourbonen-Herrschaft auf dem italienischen Festland führten, nachdem es Garibaldi im August 1860 mit seinen inzwischen beträchtlich gewachsenen Freischärler-Scharen gelungen war, die Meerenge von Messina zu überqueren und in Kalabrien Fuß zu fassen. Nur der geradezu hilflos ungeschickten, von verräterischen Ratgebern soufflierten Politik des jungen und politisch unbedarften Königs Francesco II. war es geschuldet, dass auch auf dem Festland das alte Regime nahezu widerstandlos zusammenbrach. Mit wenigen, sicheren Strichen zeichnet Macry den Verlauf dieses in ganz Europa bestaunten Kollapses nach. Die vollkommene moralische Skrupellosigkeit, mit der die piemontesische Politik unter Führung Cavours und dessen süditalienische Handlanger vor Ort vorgingen, sorgte dafür, dass der politische Augenblickserfolg spektakulär ausfiel - allerdings mit Folgekosten, die bis heute spürbar sind. Und die sich schon nach kürzester Zeit in Gestalt einer vollkommenen Fremdheit der Süditaliener gegenüber den neuen Herren aus dem Norden äußerten. Sehr rasch erwies sich, dass die Einführung moderner staatlicher Strukturen in der weitgehend vormodernen Gesellschaft des Mezzogiorno auf nur gewaltsam zu brechenden Widerstand stieß. Die dabei an den Tag gelegte, nicht zuletzt auf fundamentalen Mentalitätsunterschieden beruhende Rücksichtlosigkeit der militärischen Vertreter des neuen Staates führte zu den von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführten sogenannten "Brigantenkriegen". Bei diesem in Europa kaum beachteten Bürgerkrieg kamen in der ersten Hälfte der 1860er Jahre bis zu 120.000 Mann regulärer Truppen in Süditalien zum Einsatz; Kriegsrecht und Standgerichte waren nötig, um den Banden-Krieg, dem Tausende von Briganten zum Opfer fielen, zumindest oberflächlich zu gewinnen.
Die Folgen dieses von einer Fremdherrschaft erzwungenen Modernisierungsprozesses bestanden vor allem darin, dass er langfristig unvollständig blieb. Im Wesentlichen, und stark zugespitzt formuliert, bestand der Kompromiss zwischen Nord- und Süditalienern darin, dass die alten Eliten des Südens die politische Herrschaft des Nordens akzeptierten und stützten, aber nur um den Preis der dauerhaften finanziellen Alimentierung. Dieser wirtschaftlich auf die Dauer ruinöse Kompromiss trug wesentlich dazu bei, dass sich am unübersehbaren Nord-Süd-Gegensatz in Italien bis heute im Grunde nichts Wesentliches geändert hat. Angesichts schrumpfender wirtschaftlicher Zuwachsraten erweist sich dieses traditionelle Ruhigstellungs-Modell seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als immer weniger praktikabel. Die daraus wiederum resultierenden Folgen für die ja gerade erst in ihren Anfängen zu beobachtenden, aber zweifellos rasch wachsenden Spannungen in Europa liegen auf der Hand. Insofern ist die Lektüre von Macrys exzellenter, mit knapper Bibliographie zu den einzelnen Kapiteln und Register ausgestatteter Studie nicht nur Historikern zu empfehlen, die sich mit der neueren und neuesten Geschichte Italiens beschäftigen, sondern allen, die sich über die Zukunft Europas Gedanken machen.
Anmerkung:
[1] "Nessuno più di me stima Garibaldi ma quando s'è vinta un'armata di 60.000 uomini, conquistando un regno di 6 millioni di abitanti, colla perdita di otto uomini, si dovrebbe pensare che c'è sotto qualche cosa che di non ordinario" (59).
Arne Karsten