Volker Grieb / Clemens Koehn (Hgg.): Polybios und seine Historien, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 359 S., ISBN 978-3-515-10477-7, EUR 62,00
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Das Buch vereinigt die verschriftlichten Vorträge der 2010 in Hamburg veranstalteten Tagung mit dem gleichnamigen Titel. Den beiden Herausgebern gebührt das besondere Verdienst, seit dem WdF-Band (1982) über Polybios den ersten deutschen Sammelband initiiert zu haben, der die neuesten Ergebnisse mit einbezieht, nachdem man bereits im englischsprachigen Forschungsraum auf die Vielfältigkeit des polybianischen Textes aufmerksam geworden war und neue Erkenntnisse jüngst in mehreren Sammelbänden zusammengefasst hatte. [1]
In einem Vorwort heben die Herausgeber ihr Ziel hervor: Polybios und "sein Werk im Rahmen der jüngeren, stark auf die dokumentarischen Quellen fokussierten Hellenismusforschung wieder stärker in den Vordergrund zu rücken". Dementsprechend wurde der in den Titel aufgenommene Zusatz "Historien" nicht in seiner Eigenschaft als res gestae, sondern vor allem in seiner Ausprägung der historia angewandt. Im Folgenden kann aus Platzgründen nicht auf alle Aufsätze eingegangen werden.
Hans Kloft befasst sich in seinem Aufsatz mit dem Thema der Universalgeschichte bei Polybios. Er belässt es aber nicht einfach dabei, auf unterschiedliche Auffassungen, die mit dieser besonderen Darstellungsweise verbunden sind (Geschichte als katholon, somatoeides historia, symploke), hinzuweisen, sondern verortet diese auch in zeitgenössischen Diskursen und kann potentielle gedankliche Einflüsse auf die Historien anschaulich aufzeigen. Völlig zu Recht weist er auf die Gefahr anachronistischer Erwartungen an die antike Vorstellung von einer Universalgeschichte hin und plädiert für einen vorsichtigeren Umgang mit diesem Begriff.
Unter dem Titel "Geschichte in Fortsetzung" wendet sich Andreas Mehl der Frage zu, "wie, warum und wozu" (74) griechische Historiker wie Polybios oder Thukydides/Xenophon ihre "auf ein Ziel geschriebene Geschichtswerke fortgesetzt" haben. Im Hinblick auf Polybios konstatiert Mehl, dass dieser im Verlauf seines Werkes den teleologischen Ansatz allmählich aufgegeben und mit der Fortsetzung ab Buch 31 Geschichte als einen ergebnisoffenen, nun nicht mehr primär auf die Vorherrschaft der Römer zulaufenden Prozess angesehen habe.
Josef Wiesenhöfer beleuchtet Polybios' kurzen Vergleich des römischen Weltreichs mit anderen großen Imperien zu Beginn der Historien (1,2). Wiesenhöfer kommt zu dem Ergebnis, dass Polybios' Ausführungen zwar zur Ausbildung eines römischen Weltreichgedankens beigetragen hätten, dass man seinen Vergleich allerdings nicht in der Tradition schematischer Sukzessionsfolgen, wie sie beispielsweise im Buch Daniel zu finden sind, verorten könne.
Dass die Streitfrage über das Wesen und die Bedeutung der tyche im Geschichtswerk des Polybios einen weiterhin spannenden und neue Überlegungen lohnenden Bereich darstellt, zeigt Jürgen Deininger. Mit Verweis auf viele explizite Äußerungen des Polybios betont er, dass für Polybios die aitiai und die tyche ein komplementäres Kausalgefüge darstellen. Geschichtliche Ereignisse erkläre Polybios entweder mit logisch-rationalen Gründen oder mit dem Einfluss der Gottheit (oder auch mit beidem zusammen), so dass keines der beiden Elemente bei seinen Erklärungen ausgeschlossen werden dürfe.
Frank Daubner zeichnet anschaulich nach, dass es Polybios bei seinen geographischen Beschreibungen nicht in erster Linie um erdkundliche Aufklärung ging; vielmehr erfüllten jene Passagen für den Historiker den Zweck, innerhalb der didaktischen Zielsetzung des Werkes den Leser in die konkrete Wahrnehmungssituation der historischen Akteure versetzen zu können, so dass ein illustratives Lernen aus der Geschichte mittels der Lektüre möglich sei.
In einem Aufsatz über "Polybios als Militärhistoriker" belegt Burkhard Meißner mit einer terminologischen Untersuchung zunächst die "geschichtskonstitutive Rolle" (156) von "Krieg", aber auch von "Politik" (wenn man eine solche Unterscheidung wirklich in dieser Art und Weise für die Antike treffen kann) innerhalb der Historien. Darüber hinaus weist Meißner darauf hin, dass Polybios den Krieg einerseits als einen "Gegenstand der Planung" (155) ansieht, andererseits aber auch aufgrund der großen Unberechenbarkeit von Handlungsabfolgen das Paradoxe - also unerwartete Umschwünge - militärische Operationen zu einem kontingenten Bereich macht.
Die Debatte über Parteilichkeit und historische Verzerrung bei Polybios unterziehen Volker Grieb und Linda-Marie Günther einer erneuten Diskussion anhand der Bewertungen zu den Demokratien durch den griechischen Historiker beziehungsweise anhand einer Analyse zur Diplomatie in den Historien. In Kongruenz zu anderen, von der Forschung bereits herausgearbeiteten Befunden, beispielsweise der Glorifizierung des demokratischen Elements in der römischen Verfassung beziehungsweise der akzentuierten Bevorzugung bestimmter Politiker oder politischer Entitäten durch Polybios, diagnostizieren Grieb und Günther bei dem griechischen Historiker eine stark subjektive beziehungsweise tendenziöse Darstellung; jedoch plädiert Grieb auch dafür, dass diese 'ideologisch' gefärbten Passagen dennoch eine Quelle "ersten Ranges" (218) böten für einen Einblick in die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und Diskurse jener Zeit und Günther möchte Polybios eine "ungenügende Glaubwürdigkeit" (232) nicht anlasten wollen.
Ebenfalls mit der Thematik der Parteilichkeit beschäftigt sich Boris Dreyer. Vor der Folie der umfassenden Arbeit von Welwei [2] modifiziert Dreyer dessen Thesen und arbeitet heraus, dass Polybios keine absichtliche Verfälschung aus römischer oder achäischer Perspektive vorzuwerfen sei.
Peter Scholz re-analysiert Polybios' Verhältnis zur Philosophie. Der seit jeher umherspukenden Zuordnung Polybios' zur storischen Schule, die auf von Scala und Hirzel zurückgeht, begegnet er mit einer sehr einleuchtenden Argumentationsweise, die zu dem Ergebnis führt, dass Polybios keine enge Verbindung zu Philosophen oder Philosophien seiner Zeit pflegte und die Übernahme stoischer Konzepte in seinem Werk nicht über das Maß eines rhetorisch-gebildeten Historikers hinausgeht.
Wolfgang Spickermann stößt mit seinem Aufsatz über "Kultisches und Religiöses bei Polybios" in eine interessante Forschungslücke. Sein Ergebnis, dass man bei Polybios keine klare religiöse Einstellung nachzuweisen vermag, trifft sicherlich zu und vermag in Zukunft hoffentlich als Warnung davor dienen, immer wieder konkrete , Standpunkte bei Polybios herausdestillieren zu wollen.
Der gesamte Sammelband zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass - wie im Vorwort des Buches betont - verschiedene methodische Ansätze (u.a. narrative, diskursanalytische, terminologische) auf den Text des Polybios angewandt werden. Außerdem gelingt es einer Vielzahl der Autoren, 'alte' und scheinbar 'ausgelutschte' Polybios-Themen aus neuen Perspektiven zu betrachten und somit originelle Zugänge zu entwickeln. Vielleicht hätten die mitunter heterogenen Befunde der Aufsätze (z.B. von Dreyer, Grieb und Günther) noch stärker aufeinander bezogen werden können. Gleichzeitig verdeutlichen aber ihre nicht nivellierten Differenzen sehr anschaulich, zu welch konträren Interpretationen die Historien teilweise führen können. Gerade dieses Phänomen stellt die größte Einladung dar, sich immer wieder mit Polybios zu beschäftigen. Diesem Sammelband gebührt also großer Dank und ebensolches Lob.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die kürzlich erschienenen Sammelbände: Bruce Gibson / Thomas Harrison (eds.): Polybius and his World. Essays in Memory of F.W. Walbank, Oxford 2013; oder Christopher Smith / Liv Mariah Yarrow (eds.): Imperialism, Cultural Politics, and Polybius, Oxford 2012; zuvor bereits u.a. Guido Schepens / Jan Bollans ée (eds.): The Shadow of Polybius. Intertextuality as a Research Tool in Greek Historiography. Proceedings of the International Colloquium, Leuven, 21-22 September 2001, Leuven 2005.
[2] Karl-Wilhelm Welwei: Könige und Königtum im Urteil des Polybios, Herbede 1963.
Felix K. Maier