Lars Nowak: Deformation und Transdifferenz. Freak Show, frühes Kino, Tod Browning (= Kaleidogramme; Bd. 74), Berlin: Kadmos 2011, 687 S., ISBN 978-3-86599-134-8, EUR 34,80
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Mit seiner äußerst umfangreichen Studie widmet sich Lars Nowak dem spannungsreichen Verhältnis von körperlicher Deformation und Transdifferenz im Kontext der amerikanischen Freak Shows, des frühen Kinos und der Filme des Hollywood-Regisseurs Tod Browning (1880-1962). Mag es sich auf den ersten Blick um eine film- und medienwissenschaftliche Analyse handeln, offenbart eine nähere Perspektivierung eine explizit philosophie- und kulturtheoretische Tiefendimension. In den verschiedenen Analyseebenen des Autors verbindet sich die prozessuale Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz zu einer medienphilosophischen Theorie körperlicher Übergangsphänomene, welche in der Lage ist, komplexe Stadien körperlicher Deformation und Transdifferenz zu beschreiben.
Das Andere, Schreckliche, Monströse und Deformierte wird durch den Autor als kulturelles Artefakt behandelt, welches mit historischen und soziosemiotischen Bezügen auf die jeweiligen Dispositive, Performanzen und rezeptive Bedingungen angewendet wird, die sich im Kontext von Freak Shows, des frühen Kinos und in Brownings Œuvre ergeben. Diese Perspektive erscheint als äußerst fruchtbar, da diese drei Bezugspunkte stets in gewissen Äußerungsakten mit gesellschaftlichen Kategorien und normativen Bestimmungsgrößen brechen und in verschiedenen Prozessstufen Strukturen der Transgression ausprägen: "Deformierte Körper können demnach nicht nur ihre eigene Differenz zum wohlgeformten Körper überschreiten, sondern transgredieren zugleich immer schon andere soziale Leitdifferenzen. Sie tun dies auf statische Weise und, da es sich bei ihnen um Körper handelt, auf der 'natürlichen' Ebene. Umgekehrt gelten bestimmte körperliche Morphologien deshalb als Deformation, weil die Differenz, die sie überschreiten, eine kulturelle Leitfunktion übernimmt" (52-53).
Das Monströse und Deformierte bringt also selbst eine Differenz zur kulturellen Norm des Normalen hervor, zeigt sich demgemäß als symbolische Form und bedingt einen reflexiven Status. Die Strukturbestimmung des Deformierten lässt sich weiterhin über eine statische und dynamische Wesensbestimmung charakterisieren: "Die erste Spielart liegt dann vor, wenn eine Entität in sich mehrere Entitäten vereinigt, die unterschiedlichen Termen der fraglichen Differenz entsprechen, die zweite Spielart dann, wenn eine Entität ihre Identität wechselt und dabei nacheinander verschiedene Terme der betreffenden Unterscheidung durchläuft. Ich nenne die erste Form der Transdifferenz 'Fusionierung' oder 'Hybridisierung', die zweite Form 'Metamorphose' oder 'Transformation'" (33).
Dualistische Differenztypen werden durch den Autor einerseits als kulturelle Artefakte behandelt, wie z.B. die Begriffspaare Mann versus Frau, groß versus klein, weiß versus schwarz oder aber wohlgeformt versus deformiert, andererseits behandelt er das Differenzschema als eine inszenatorische und narrative Variable, die zwar auf kulturelle Dispositive und Performanzen angewiesen bleibt, diese aber zugunsten unterschiedlicher Rezeptionswirkungen nutzt. Kulturelle Leitdifferenzen manifestieren sich demnach gleichermaßen in Oppositionspaaren, die als Artefakte und narrative Prinzipien in Freak Shows, frühem Kino und den Filmen Brownings zu finden sind. Die Besonderheit liegt im rezeptiven Potential: dass nämlich Bedeutungsstrukturen und Effekte hervorgebracht werden, die als Formen der Transzendenz auf symbolische Durchmischung, Überformung und Entgrenzung abzielen. Das leitmotivische Element der körperlichen Deformation bildet den roten Faden der Argumentation, als plausibles Schlüsselphänomen der thematischen und semiotischen Verklammerung von Freak Shows, frühem Kino und Brownings Filmen: "Die Auswahl der freak shows, des frühen Kinos und der Filme Brownings ist zum einen darin begründet, dass in allen drei Hervorbringungen der Populärkultur auch jene Leitdifferenzen thematisch werden, denen die Geisteswissenschaften bislang vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt haben. Diese Thematisierung nimmt häufig die Gestalt einer statischen oder dynamischen Transgression an, von denen sich Letztere im Fall der Filme auf die Beweglichkeit des kinematographischen Bildes selbst stützen kann" (57-58).
Der Autor erarbeitet in einer komplexen Argumentationskette den Zusammenhang dieser drei kulturellen Artefakte, wobei stets das Element der Deformation die argumentative Grundperspektive bestimmt, um Grenzen und Übergänge zu verorten - von einer Ästhetik der Schauwerte, des Rummelplatzes und Attraktionen hin zu einer Ästhetik der Narration und handlungstheoretischen Organisation. Der Bezug auf Tod Bowning zeigt sich dabei als besonders evident, denn dieser fokussierte seine zahlreichen künstlerischen Arbeiten zeitlebens stets auf die symbolische Dimension von Körpern und dessen deformierte Elemente, was sich im auch heute noch populären Film Freaks (USA 1932) besonders deutlich zeigt. "Brownings Filme legen die enge Beziehung der körperlichen Deformationen zur Transgression der gesellschaftlichen Leitdifferenzen schließlich dadurch frei, dass sie den durch die physisch deformierten Gestalten vollzogenen Transdifferenzen eine Dauerhaftigkeit verleihen, die sie den Grenzüberschreitungen der wohlgeformten Figuren verwehren. [...] Zugleich aber beschränken die Filme Brownings die Figur der Transdifferenz nicht auf den deformierten Körper, sondern inszenieren ihre Proliferation und Universalisierung" (525).
Browning zeigt sich in der Auswahl von Geschichten sowie im Überschreiten von moralischen Normen innerhalb seiner Filme als Grenzgänger, der sich trotz Phase des klassischen Narrationskinos auf die Attraktionsästhetik des frühen Kinos bezogen hat. Dank dieser filmhistorischen Grenzüberschreitung gelangen ihm neben innovativen ästhetischen Strategien ebenfalls rezeptive Dynamiken mit affektiver Brisanz. "Transgrediert wurde bei Browning nicht nur jene Grenze, die den deformierten Körper vom wohlgeformten trennt; transgrediert wurden hier vielmehr auch die Grenzen zwischen den Affekten, die dieser Körper in den Rezipienten auslöste" (612).
Der Autor entwickelt seine Argumentation äußerst detailreich mittels einer Vielzahl von Filmbeispielen. Dies verlangt dem Leser in einigen Abschnitten nicht wenig ab, denn zuweilen ist es schwierig die Übersicht über die vielfältigen theoretischen Bezüge und zahlreichen Filmbeispiele zu behalten. Befasst man sich jedoch näher mit der ausführlichen Argumentation, die kulturwissenschaftliche, medien- und filmwissenschaftliche, philosophische und zuweilen ethnografische Theorieelemente bereithält, und rezipiert zumindest die Filmbeispiele, die für das Verstehen der Basisargumentation vonnöten sind, dann leistet der Autor etwas Grundlegendes und bietet einen erkenntnistheoretischen Mehrwert in einem oft vernachlässigten Untersuchungsgegenstand im Kontext von Freak Shows, frühem Kino und Tod Browning.
Lars Grabbe