Warren C. Brown / Marios Costambeys / Matthew Innes u.a. (eds.): Documentary Culture and the Laity in the Early Middle Ages, Cambridge: Cambridge University Press 2013, XVI + 389 S., ISBN 978-1-107-02529-5, GBP 65,00
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Mit diesem Buch legt die mitunter auch sogenannte "Lay Archives Working Group" ein wichtiges Ergebnis ihrer Zusammenarbeit in den letzten zehn Jahren vor. Das ansehnliche Opus besteht aus einer Einleitung (1-16), zwölf Beiträgen von zehn verschiedenen Autoren (17-362), einem zusammenfassenden Schlussteil (363-376) sowie einem Index (377-389).
Das Buch will einen Überblick über die Entstehung und Verwendung von vornehmlich, aber nicht ausschließlich urkundlichem Geschäftsschriftgut durch Laien im frühen Mittelalter geben sowie seiner Aufbewahrung und Archivierung nachgehen. Es ist deshalb vor allem für all jene mit großem Gewinn zu lesen, die sich mit Themenbereichen wie Rechts- und Dokumentationspraxis, (pragmatische) Schriftlichkeit und "literacy" im frühen Mittelalter beschäftigen. Es ist aber durchaus auch für jene von großem Interesse, die sich stärker der traditionellen Diplomatik und ihren Methoden verpflichtet fühlen, obwohl das Buch ausdrücklich nicht für solche "Urkundionen" geschrieben wurde (vgl. 11).
In der Einleitung wird der Untersuchungsgegenstand näher bestimmt: Dabei wird für den behandelten Zeitraum eine allzu scharf gedachte Dichotomie zwischen "laikal" und "klerikal" relativiert (4-8) und ihr aus guten Gründen, freilich erst im Nachwort explizit, das Gegensatzpaar "institutionell" / "nichtinstitutionell" entgegengesetzt (375). Von dieser Akzentverschiebung ist natürlich auch die Definition der in allen Beiträgen im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden "lay documents" betroffen, die auch deshalb nicht immer ganz scharf sein kann (vgl. 3, 10, 22-24, 238).
Ebenfalls bereits in der Einleitung und in weiterer Folge auch in mehreren Beiträgen wird der Begriff des Archivs problematisiert (12-15), der von seiner teilweise etymologischen, teilweise historischen Verbindung mit Konnotaten wie "herrschaftlich", "staatlich" bzw. "öffentlich" gelöst und als eine bewusste Sammlung von Dokumenten relativ weit gefasst wird (3-4, vgl. aber auch 15, 20).
Die gelungene Anordnung der Beiträge wird der Intention des Buches, zeitlich und regional unterschiedliche Voraussetzungen und Entwicklungen des Umgangs von Laien mit schriftlichen Rechtsdokumenten verfolgen zu wollen, in einem besonderen Ausmaß gerecht. Sie führt die Leserin und den Leser zunächst in die Spätantike und hier naturgemäß in den Mittelmeer-Raum, danach ins karolinger- und nachkarolingerzeitliche Kontinentaleuropa, schließlich auch ins angelsächsische England.
Der Spätantike sind die Beiträge von Peter Sarris (Lay archives in the Late Antique and Byzantine East: the implications of the documentary papyri, 17-35), Jonathan Conant (Public administration, private individuals and the written word in Late Antique North Africa, c. 284-700, 36-62) und Nicholas Everett (Lay documents and archives in early medieval Spain and Italy, c. 400-700, 63-94) gewidmet.
Mit dem vornehmlich karolingerzeitlichen Kontinentaleuropa beschäftigen sich die Beiträge von Warren Brown (The gesta municipalia and the public validation of documents in Frankish Europe, 95-124 sowie Laypeople and documents in the Frankish formula collections, 125-151), Matthew Innes (Archives, documents and landowners in Carolingian Francia, 152-188), Hans Hummer (The production and preservation of documents in Francia: the evidence of cartularies, 189-230) und Marios Costambeys (The laity, the clergy, the scribes and their archives: the documentary record of eighth- and ninth-century Italy, 231-258).
Die Beiträge von Adam J. Kosto (Sicut mos esse solet: documentary practices in Christian Iberia, c. 700-1000, 259-282), Matthew Innes (On the material culture of legal documents: charters and their preservation in the Cluny archive, ninth to eleventh centuries, 283-320) und Antonio Sennis (Documentary practices, archives and laypeople in central Italy, mid ninth to eleventh centuries, 321-335) nehmen dann bereits (Weiter-)Entwicklungen im 10. und 11. Jahrhundert in Augenschein. Charles Insley (Archives and lay documentary practice in the Anglo-Saxon world, 336-361) bereichert den Band mit interessanten Einblicken in die Situation in England.
Informativ sind die in beinahe allen Beiträgen an den Beginn gestellten Erläuterungen zur Überlieferung der Dokumente, da sie einen knappen, aber guten Überblick über wichtige frühmittelalterliche Urkundenbestände bieten, die freilich praktisch alle auf kirchliche Provenienzbildner zurückgehen. Wie in mehreren Beiträgen (etwa jenen von Innes, Hummer, Costambeys, Kosto) deutlich wird, sind Dokumente von bzw. für Laien eben in der Regel nur dann überliefert, wenn sie als Einzelstücke oder Urkundendossiers (und wohl zusammen mit den sie verbriefenden Besitzungen bzw. mit den Eigenkirchen, in denen sie häufig aufbewahrt wurden) an große kirchliche Institutionen und in deren Archive kamen.
Diese spezielle Überlieferungssituation, für die auch verschiedene Gründe angegeben werden (vgl. die Beiträge von Hummer, 198, Sennis), hat sicher vielfach zu einer gewissen Marginalisierung dieser Dokumente, und, sieht man vielleicht von Italien ab, vielleicht auch zu einer Vernachlässigung der Frage nach dem Stellenwert von schriftlichen Rechtsdokumenten für Laien und deren Umgang mit diesen geführt. Und so ist es zweifellos ein Verdienst der Autoren dieses Buches, eine ganze Reihe von frühmittelalterlichen Urkundenbeständen und ähnlichen Quellen (wie etwa Formularsammlungen) kirchlicher Provenienz auf dieses ursprünglich nichtkirchliche Schriftgut hin zu untersuchen.
Grundsätzlich postulieren alle Autoren wohl zu Recht eine erheblich weitere Verbreitung von pragmatischer Schriftlichkeit außerhalb kirchlicher Institutionen, wobei das Ausmaß, in welchem Laien im Alltag mit Urkunden zu tun hatten, wie die Beiträge zeigen, von zeitlichen und räumlichen Bedingungen und vielfach, wenn auch nicht überall (vgl. die Beiträge von Conant, Kosto) vom sozialen Status der betroffenen Personen abhängig war.
Natürlich wird es in Hinblick auf in diesem Buch behandelte Einzelfragen auch weiterhin unterschiedliche Ansichten, Interpretationen und entsprechende Diskussionen geben (etwa die Einschätzung der Rolle und Bedeutung der Gesta municipalia durch Everett "as a short-lived creation of the late Roman state for fiscal purposes" [64], die offenbar auch nicht von allen seinen Mitautoren geteilt wird - vgl. etwa die Beiträge von Conant und Brown), doch sind die Kernaussagen des Buches davon kaum betroffen.
Insgesamt besticht der Sammelband durch seinen klaren und gelungenen Aufbau sowie durch seine vielfältigen und reichhaltigen Beiträge, die der Leserin und dem Leser einen guten Überblick über und interessante exemplarische Einblicke in den frühmittelalterlichen Umgang von Laien mit Rechtsdokumenten vermitteln - von deren Entstehung, über ihre weitere Verwendung bis hin zu ihrer Aufbewahrung, Archivierung und Überlieferung.
Bernhard Zeller