Peter Haber: Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München: Oldenbourg 2011, 184 S., ISBN 978-3-486-70704-5, EUR 29,80
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Dass man sich mit einer Arbeit über "Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter" inzwischen sogar habilitieren kann, zeigt an, wie deutlich der Gegenstand aus der Schmuddelecke herausgetreten und, wenn nicht ins Zentrum des Faches, so doch in dessen Peripherie vorgedrungen ist. Aber der Autor stellt auch klar, dass er etwas Besonderes bleibt, vor allem dadurch, dass er noch mehr (kluge) Fragen stellt als beantwortet.
Das für eine Habilitationsschrift erfreulich kurze Buch ist in Kapitel eingeteilt, die eher locker miteinander verbunden sind. Die "Préludes - oder: Wie der Computer in die Geschichte kam" und "Das Internet der Geschichte" skizzieren einen Prozess, der in den frühen 1960er-Jahren begann und vor allem Teile einer statistisch interessierten, sozialwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft erfasste, da diese ein naturgemäß weniger verkrampftes Verhältnis zu Zahlen hatte, als Vertreter anderer Gebiete. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive wird man hier die nur wenig später einsetzenden Projekte von Lutz Heusinger in Marburg und William Vaughan in London hinzufügen wollen. Interessant und gegenüber den hektisch neugegründeten "Centers for Digital Humanities" lehrreich dürfte die Tatsache sein, dass der an der Kölner Universität vorhandene, überaus produktive Schwerpunkt "Historische und linguistische Informationsverarbeitung" eben nicht wie Zieten aus dem Busch gesprungen ist, sondern auf Vorläufer dort zurückgeht, die, wie Carl August Lückerath, ihre Aktivitäten sogar schon früh im Rahmen einer Professur entfalten konnten. Ansonsten sind die Hinweise auf digital gestützte geschichtswissenschaftliche Aktivitäten im deutschen Bereich ein wenig einseitig und Berlin-zentriert (H-Soz-u-Kult). Das in München früh gestartete, einflussreiche Portal historicum.net und die sehepunkte werden mit keinem Wort erwähnt.
Im Zentrum stehen aber die Reflexionen über Informationssuchen und damit die Erkenntnis, dass sich in diesem Feld vielleicht mehr noch als in den anderen ein Paradigmenwechsel abzeichnet, der über rein quantitative Veränderungen hinausgeht. Denn dort, wo in der analogen Welt die Texte und Objekte in einer festen Zuordnung eingeordnet waren, werden sie nun freigegeben und viel leichter in neuen und immer wieder neuen Kontexten erschließbar. Der Bezug zu David Weinbergers "Ende der Schublade" liegt hier auf der Hand und wird von Haber auch ausdrücklich hergestellt. [1] Es scheint mir kaum übertrieben, hierin einen epistemologischen Bruch zu sehen, dessen Konsequenzen bisher nur erahnbar sind.
Als Fachhistoriker muss es Haber darauf ankommen, die neuen digitalen Mittel in ein Verhältnis zu klassischen historischen Heuristiken zu stellen. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass etwa quellenkritische Maßstäbe erhalten bleiben, beschreibt aber gleichzeitig die Probleme, die sich aus der verlustlosen Reproduzierbarkeit und Veränderbarkeit von Dokumenten ergeben. Besonders müssen ihn die neuen Möglichkeiten des Schreibens, Publizierens und Bewertens interessieren. Beim Schreiben die Perspektiven eines kooperativen Verfassens von Texten und die neuen Veröffentlichungsformate, die sich etwa im Weblog anbieten; beim Publizieren das große Thema Open Access; und beim Bewerten netzgestützte Formen des reviewing, die sich vom klassischen peer review unterscheiden und auf Formen des open peer reviewing hinauslaufen.
Im Übrigen richtet sich der Blick des Autors immer mal wieder auch auf andere historische Fächer, zum Beispiel die Kunstgeschichte. Zurecht sieht Haber die Visualisierungspotentiale des Digitalen vorrangig, die er als Methode seiner eigenen Profession empfiehlt, die aber natürlich auch in der Kunstgeschichte ihre (sowieso schon lange virulente) Wirkung weg von einer Text- und hin zu einer echten Bildwissenschaft verstärken dürften.
Der Autor des vorliegenden Buches ist vor kurzem mit nicht einmal 50 Jahren verstorben. Der Geschichtswissenschaft ging damit ein ebenso kritischer wie beherzter Vertreter einer Fachrichtung verloren, die trotz allem weiterhin eher stiefmütterlich behandelt wird und die wohl nur dann reüssieren dürfte, wenn sie zum selbstverständlichen und integralen Bestandteil der gängigen Disziplinen wird.
Anmerkung:
[1] David Weinberger: Das Ende der Schublade: Die Macht der neuen digitalen Unordnung, München 2008 (zuerst engl. 2007).
Hubertus Kohle