John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema. Herausgegeben von Horst Bredekamp und Marion Lauschke (= ACTUS et IMAGO. Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie), Berlin: Akademie Verlag 2011, XII + 327 S., 72 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-005208-3, EUR 79,80
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Vor dem Hintergrund des divergenten Bild- und entsprechend Methodenverständnisses in der Kunstgeschichte zu Beginn des letzten Jahrhunderts erstaunt es, dass es nach jahrelangen Grabenkämpfen heute zu einer Annäherung des vermeintlich ahistorischen, subjektiven Ansatzes der formalen Ästhetik und derjenigen der historisch-objektiv orientierten Ikonologie kommt. Denn zu diesem Schluss veranlasst die Lektüre der Veröffentlichung der Schriftensammlung von einem der Ideengeber des jüngsten Exzellenzclusters an der Humboldt-Universität in Berlin Bild Wissen Gestaltung [1] des 2011 verstorbenen, amerikanischen Philosophen und Cassirer-Experten John Michael Krois. Es ist die konkrete Auseinandersetzung von Krois mit dem Hamburger Kreis um Panofsky, vor allem Ernst Cassirer, aber auch Aby M. Warburg und Edgar Wind und weiterführend mit der "Semeiologie" Charles Sanders Peirces sowie jüngerer neurowissenschaftlicher Forschungen zum Enaktivismus, die diese Sicht eröffnet.
Bereits die Lektüre der Schrift von Krois zur Geschichtsauffassung Cassirers 1987 macht deutlich [2], es ist nicht - was der Ikonologie gerne unterstellt wird - der Inhalt (und damit auch der historische Kontext), der die Form dominiert; dem entgegen gelte, Form und Bedeutung seien schon immer eine Einheit. Cassirer bezeichnet sie entsprechend als symbolische Form (50). Grundlegend dafür ist, dass die ursprüngliche Beziehung zur Welt, wie es schließlich für die Bildtheorie von Krois wesentlich wird, eine körperliche sei, in der sich uns die Welt ausdrucksmäßig erschließe (85). Schließlich seien es Techniken bzw. Handlungen und Sprache, die uns erste kausale Zusammenhänge verdeutlichen (96). Insofern sei das Leben ein System der Taten (73), in dem über lebendige, unabschließbare Prozesse die wechselnden Konzepte des Wissens Form annehmen (17). Statt einem Substanzbegriff liegt dem Modell Cassirers, dem Krois nachfolgt, ein Funktionsbegriff zugrunde. Gerade dieser bildet die Grundlage, wie sich zeigt, für eine Annäherung an die formale Ästhetik.
Wenn, wie es Cassirer nahe legt, Form und Inhalt eine Einheit bilden, wie zeigt sich diese Einheit im Bild? Es ist diese Frage, die sich wie ein roter Faden durch die nachfolgenden Schriften von Krois zieht. Im Ringen um das Verhältnis von Bildschema (die Verkörperungstheorie) einerseits und dem Bildkörper (als distanziertes Objekt) anderseits spiegelt sich sein Antworthorizont im Titel der von Horst Bredekamp und Marion Lauschke 2011 herausgegebenen Schriftensammlung zu Krois wider (vgl. hierzu explizit 218f.). In 16, 1998 bis 2011 erschienen Texten, davon sieben in Englisch, findet die Auseinandersetzung damit statt.
Edgar Wind, der 1927 bei Cassirer und Panofsky promovierte, ist für Krois ein erster Gewährsmann für seinen Ansatz. Historische Dokumente (auch der Kunst) ebenso wie wissenschaftliche Experimente bzw. der Mensch selbst seien für Wind Verkörperungen der Wirklichkeit und damit immer schon symbolisch. Um die "Emergenz von (je, M.S.) Neuem" zu verstehen, die sich darin bekunde (15f., 32ff., 38ff.), hält Wind die geschichtliche Auslegung der Dokumente für zentral (Ikonologie), diese gehe jedoch in der "reinen Kunst" der Moderne verloren. Dem widerspricht Krois, indem er auf die Bedeutsamkeit ihres "augenblicklichen emotionalen und sinnlichen Reizes" verweist, der sich einer symbolischen und damit subjektiv-konventionellen Auslegung widersetze (22, 300-303). Hierin deutet sich bereits eine Unterscheidung der Wahrnehmung an, die Cassirer, wie Krois aufzeigt, im Anschluss an Untersuchungen von Pathologien des mit ihm verwandten Neurologen Kurt Goldstein in Frankfurt vornimmt: zwischen einer unbewussten, natürlichen und einer bewussten, künstlichen. Der Umstand, dass die Fähigkeit zur Distanzierung bzw. bewussten Symbolisierung verloren gehen könne, während die natürliche, sinnliche Form der Symbolisierung, die sich im Tun äußere, noch erhalten bleibe, eröffnete diesen Zusammenhang (53, 52-57, 187). Cassirer übertrug diesen "Vorgang" in ein Modell von Leib und Seele, demzufolge von einer Transformation der natürlichen (sinnlichen) Zeichen in künstliche (kulturelle) ausgegangen werden könne (61f., 298). Diese Differenzierung wurde zudem entscheidend durch den Kontakt Cassirers mit dem Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg und dessen Bibliothek in Hamburg vorangetrieben. Letzterer sah seine Aufgabe darin, aufzuzeigen, wie die natürlichen, sinnlichen und zugleich emotionalen Reize in Bildern verkörpert werden (Pathosformeln) und auf diese Weise als ein Mittel der Distanzierung fungieren können (77-91, 186, 294). Es ist gerade dieser ursprüngliche Zugang zur Welt, der schließlich in ein Handeln mündet, das eine kausale Auslegung der Welt ermöglicht, der nach Krois das Cassirer'sche Modell in die Nähe der Zeichentheorie (Pragmatismus) von Charles Sanders Peirce rückt (vgl. einführend 65-75, bzw. 92-112, 183ff., 163-174, 275, 294-298). Auch nach Peirce lassen sich die Zeichen nicht von den Bedeutungen (Gefühlen, Willensäußerungen und Ideen), die ihnen zugeschrieben werden, unterscheiden, im Gegenteil, die Zeichen gehen der Deutung voraus (102, vgl. ergänzend zur Umwandlung und Weitergabe von Informationen: 142-149, die bildliche Spuren hinterlassen: 218f. bzw. als ikonische Zeichen als unerlässlicher Anfang des Erkenntnisprozesses anzusehen sind: 303f.). Mit der unmittelbaren Bindung an den Körper (Biosemiotik) gehe Cassirer jedoch einen Schritt weiter (111, 298). So werde eine Linie zugleich qualitativ individuell als lebendig-bewegt erfahren (104-112). Es ist der Hamburger Biologe Jakob von Uexküll, der Cassirer verdeutlichte, dass diese körperliche, letztlich unbewusst erfolgende senso-motorische Erfahrungsform (Propriozeption: 158, 215, 219, 246 bzw. Körperschema: 228, 250, 258, Enaktivismus: 275-287) von der Umwelt abhänge und nicht allein visuell organisiert sei (188-193, vgl. ergänzend Untersuchungen mit Blinden und Computertechnologien: 149-160, 211-216, 224-228, 253-260 und zur Synästhesie: 163-174). Wobei die schwierige Frage, inwiefern dabei Gefühle angesprochen werden, für Krois nach wie vor offen bleibt (160). Es sind jüngere neurowissenschaftliche Forschungen, die ihm 2010 hier weiterhelfen, denn auch Gefühle, so Vittorio Gallese und David Freedberg, seien körperliche Prozesse (233-251, 237ff.). Schlussfolgernd hält Krois fest, dass auch im Bild dynamische, affektiv wirksame Aspekte liegen müssen: "The ursupatory character of pictural objects - the fact that they possess affective meanings independently of the artists' intentions and the viewer's deliberate interpretations - results from the fact that like the viewer, they too embody dynamic affective image schemas." (251, vgl. ferner 269, 278, 306)
Implizit, so lässt sich an die Krois'schen Überlegungen anschließen, besteht hier eine Analogie zwischen Gestaltungsweisen und Anschauungsformen (Bildschema und Körperschema), ansonsten könnten die dynamisch-affektiv wirksamen Aspekte des Bildes nicht wahrgenommen werden, eine Annahme, die sich mit eigenen Forschungen deckt. [3] Mit der Betonung des funktionalen Zusammenhangs zwischen Form und Inhalt, mathematisch gesprochen der Abbildungsvorschrift, hebt auch Krois in der Nachfolge von Cassirer darauf ab. Weiterführend ist es genau dieser Zusammenhang, den Lambert Wiesing in seiner Untersuchung zur Geschichte der formalen Ästhetik als grundlegend herausstellt. [4]
Anmerkungen:
[1] Über 20 Disziplinen sind an dem Mitte 2012 bewilligten und von dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp und dem Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner initiierten Excellenzcluster der Universität beteiligt. Weiterführend vgl. hierzu http://www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/2012/07/exzellenzcluster-bild-wissen-gestaltung/ und https://www.interdisciplinary-laboratory.hu-berlin.de/de (27.03.2013).
[2] John Michael Krois: Cassirer: Symbolic Forms and History, New Haven / London 1987.
[3] Martina Sauer: Faszination - Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, Heidelberg 2012, in: ART-Dok, Publikationsplattform Kunstgeschichte, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2012/1851/ (05.03.2012).
[4] Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes, Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt/M. (1997) 2008, 16ff., hier 18f., vgl. ergänzend dazu die Rezension von mir, in: http://www.sehepunkte.de/2010/07/15646.html (15.07.2010).
Martina Sauer