Karin Müller-Kelwing: Die Dresdner Sezession 1932. Eine Künstlergruppe im Spannungsfeld von Kunst und Politik (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 185), Hildesheim: Olms 2010, 620 S., 31 Farb-, 83 s/w-Abb., ISBN 978-3-487-14397-2, EUR 78,00
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Die lokale Kunstgeschichte der Moderne, ihre konkrete Ausformung in einem sehr spezifischen historischen und ökonomischen Kontext, kommt immer stärker in den Blick. Damit wird ein wesentlicher Beitrag zu einer Sozialgeschichte der modernen Kunst geleistet, der jenseits des etablierten Kanons der Meisterwerke und Heroen das Spektrum der Moderne immer präziser und differenzierter erfasst. Dass dabei auch zweitrangige bis mediokre Figuren ins Blickfeld rücken ist unvermeidlich, kann den Nutzen solcher allfälligen Untersuchungen aber nicht grundsätzlich beeinträchtigen, solange der lokale Blick nicht zu einer Überschätzung des künstlerischen Ranges verleitet. Karin Müller-Kelwings 2008 der TU Dresden vorgelegte Dissertation situiert die Dresdener Sezession 1932 im Umfeld der Dresdner Kunstentwicklung nach dem Ersten Weltkrieg, bevor sie die Entwicklung der Gruppe trotz einer schwierigen Quellenlage bis vor den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs detailliert nachzeichnet. Damit leistet die Autorin einen wichtigen Beitrag zur regionalen Kunstgeschichte der Metropole Dresden, zur Geschichte der Sezessionen und des Sezessionismus als Phänomen seit dem späten 19. Jahrhundert und seinem Nachleben in der Zwischenkriegszeit sowie der lokalen Ausprägungen und Konsequenzen der nationalsozialistischen Herrschaft und Kunstpolitik in der Anfangsphase des Regimes.
Dresden war aufgrund der expressionistischen Künstlergruppe Brücke, einiger bedeutender moderner Kunstgalerien (Arnold und Richter) sowie einzelner überregional bedeutender Ausstellungen ein Zentrum der Moderne in der durchaus heterogenen Kunstszene des späten Wilhelminischen Kaiserreichs. Müller-Kellwig entfaltet auf 50 Seiten (41-92) ein fundiertes Bild der künstlerischen Entwicklung in der Metropole, wobei insbesondere auf die wichtige Dresdner Sezession Gruppe 1919 hingewiesen wird, in der Conrad Felixmüller und Otto Dix wichtige Rollen spielten. Die weitere Entwicklung stand dann vor allem im Zeichen einer sich seit den späten 1920er-Jahren rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation und dem allmählichen Erstarken der NSDAP als politischer Kraft, mit der spätestens seit 1930 zu rechnen war. Die Studie berücksichtigt diese Entwicklungen und vor allem die immer wieder eingestreuten Hinweise auf die ökonomischen Bedingungen der Kunstproduktion, etwa von welch kümmerlichen Beträgen bildende Künstler zu leben hatten, für welche Preise sie ihre Werke abgaben und wie sich die Arbeits-, Ausstellungs- und Wohnsituationen sukzessive verschlechterten, zeichnen angesichts und teilweise trotz der nüchtern-faktenreichen Sprache ein mitunter beklemmendes Bild von dem Künstlerproletariat der späten Weimarer Republik.
Das Scheitern einer ursprünglich bereits für das Jahr 1931 geplanten Überblicksschau der Dresdner Künstlerschaft führte zur Bildung der Dresdner Sezession 1932 und zur Realisierung mehrerer kleinerer Kunstausstellungen unterschiedlicher Träger und Gruppen im Herbst 1932. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zerschlugen sich andere gemeinsame Pläne für eine Gemeinschaftsausstellung 1933. Die weitere Darstellung beschreibt im Detail die Entwicklung der Gruppe bis in die späten 1930er-Jahre (1937 hört die Gruppe mehr oder weniger auf zu existieren) und das Schicksal einiger Protagonisten bis in die Nachkriegszeit. Dabei sind zwei Ergebnisse bzw. Einschätzungen der Studie bemerkenswert. Zum einen kann Müller-Kelwing klar herausarbeiten, unter welchen Bedingungen die wichtigsten Künstlerpersönlichkeiten der Dresdner Sezession 1932 (etwa Ernst Bursche, Pol Cassel, Erich Fraaß, Hermann Glöckner, Otto Griebel, Bernhard Kretzschmar, Wilhelm Lachnitt oder Curt Querner) ihre Werke schufen und auszustellen versuchten. Das gelang zum Teil durch geschicktes Taktieren, einige Anpassungen und das Aufspüren von Nischen. Bei all dem kommt der Autorin zu Recht aber immer wieder die bestürzende kulturelle Verarmung des "Dritten Reichs" in den Blick, die selbst Ideologen wie Alfred Rosenberg nicht verborgen bleiben konnte. Ja, er selbst sprach die Tatsache, dass "die nationalsozialistische Weltanschauung [...] keine überragenden kulturellen Schöpfungen aufzuweisen vermag", im Sommer 1934 unverblümt aus (122), ohne daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Neben dieser zutreffenden Diagnose der umfassenden Unfähigkeit des Regimes, in den Jahren 1933 bis 1945 zureichende Bedingungen für eine diskutable ästhetische Produktion herzustellen, findet die Verfasserin zum anderen auch klare Worte für die kulturpolitische Situation nach 1945 unter sowjetischer und SED-Herrschaft. Erneut wurde der Kunst ihre Freiheit genommen, versuchte man, sie in den Dienst des Staates zu stellen und riskierte und provozierte mediokre Propagandakunst. Auch wenn dieser Zeitraum nur peripher beleuchtet wird, die Studie spricht hier eine wünschenswert klare Sprache und kommt angesichts der nachverfolgten einzelnen Künstlerbiografien zu gerechtfertigten harten Urteilen. Dass die betroffenen Künstler, wie schon 1933, erneut den Weg in die Innere Emigration oder in die Resignation antreten mussten, verdeutlicht die doppelte Tragödie einer ganzen künstlerischen Generation, deren Produktivität von den beiden deutschen Diktaturen erstickt wurde (169).
Primäres Ziel der Dresdner Sezession 1932 war eine adäquate Interessenvertretung sowie die Schaffung von Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten. Ein künstlerisches Programm im Sinne einer konzisen ästhetischen Position ließ die Gruppe von Anfang an vermissen, auch wenn beispielsweise die Dix-Schüler einen starken Strang veristisch-neusachlicher Malerei innerhalb der Gruppe repräsentierten. Es ging vielmehr um Dresden als Stadt der Kunst, um das Anmahnen einer fürsorglichen Kunstpolitik des Staates, Ausstellungsmöglichkeiten und die "Freiheit der Kunst" im weitesten Sinne. So liest sich die Studie in ihrem umfassenden dritten Teil weitgehend als sauber recherchierte Dokumentation von Künstlerschicksalen, Ausstellungen und Rezeptionsgeschichten. Sie nimmt hier den Charakter eines verdienstvollen, sachlich-deskriptiven Handbuchs an. Ein Absatz wie jener: "Der mit der Publikation vorliegenden, umfangreichen Aufarbeitung der Geschichte der Dresdner Sezession 1932 müsste nun die kunsthistorische Bewertung des Schaffens einzelner Sezessionisten von 1932 folgen. Bei dieser monografischen Aufarbeitung müssten die Werke jeweils in den Kontext ihrer Entstehungszeit gestellt werden." (362) offenbart jedoch die ganze Problematik der vorgelegten Studie und ihres methodischen Ansatzes, und am Ende fragt man: muss die gründliche sozial- und rezeptionsgeschichtliche Recherche immer wieder - und angesichts der Kunst scheinbar fast zwangsläufig - mit der Absenz des ästhetischen Urteils erkauft werden, wenn die politisch-historischen doch so prägnant gefasst werden können?
Olaf Peters