Philipp W. Rosemann (ed.): Mediaeval Commentaries on the Sentences of Peter Lombard. Volume 2, Leiden / Boston: Brill 2010, XII + 551 S., ISBN 978-90-04-11861-4, EUR 163,00
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Petrus Lombardus († 1160), Leiter der Kathedralschule von Notre-Dame und wirkmächtiger Bischof von Paris, zählt zu den bedeutendsten frühscholastischen Theologen. Sein enormer, bis weit in die Frühe Neuzeit hinein reichender Einfluss gründet in der Abfassung eines Standardwerks, dessen Stellung innerhalb der theologischen Fakultäten des Abendlandes zentral war. In seinen vier Büchern der Sentenzen sammelte und ordnete er das theologische Wissen der Zeit. Strittige Fragen sollten dabei auf der Grundlage von Väterautoritäten einer Lösung zugeführt werden.
In der aktuellen mediävistischen Forschung dürfte jedoch schwerlich ein Werk zu finden sein, das so häufig zitiert und so wenig gelesen wird. Immerhin liegt seit 2007 eine von Philipp W. Rosemann verfasste, vorzügliche Einführung in die Sentenzen vor. [1] Und die englische Übersetzung des Gesamttextes - abgeschlossen im Jahr 2011 - dürfte die Hemmschwelle, sich mit dem Text auseinanderzusetzen, noch einmal deutlich senken. [2]
Die Sentenzen dienten freilich nicht nur als einfaches Lehrwerk, sondern bildeten die Grundlage einer Vielzahl späterer Kommentare, in denen angehende Theologieprofessoren zum einen ihre Vertrautheit mit der Lehre des Lombarden, zum anderen ihren eigenen theologischen Scharfsinn unter Beweis zu stellen hatten. Seit langem ist bekannt, dass diese Kommentare nicht nur für den Kirchenhistoriker von großem Interesse sind, findet sich in ihnen doch eine Fülle von Beispielen aus der mittelalterlichen Lebenspraxis und -wirklichkeit.
Doch wie ist es um die Erforschung der vielen erhaltenen Sentenzenkommentare bestellt? Nachdem bereits 2002 ein erster, von Gilian Evans herausgegebener Band erscheinen konnte, in dem die Rezeptionsgeschichte des mit Abstand einflussreichsten Textbuchs zur Theologie im Mittelalter nachgezeichnet wurde, liegt nun ein Folgeband vor. Philipp W. Rosemanns Initiative ist es zu verdanken, dass sich 15 ausgewiesene Spezialisten nicht nur mit dem status quaestionis beschäftigen, sondern bewusst versuchen konnten, in diejenigen Bereiche vorzustoßen, die im ersten Band unbehandelt geblieben waren. Überblicksdarstellungen über bestimmte Perioden bzw. theologische Strömungen finden sich nicht: individuelle Autoren und deren Werke stehen im Mittelpunkt. Dieser Zugriff ist nicht unproblematisch, liegen doch viele der behandelten Kommentare nur in unkritischen Edition vor oder fehlen ganz - als prominentestes Beispiel wäre hier wohl Thomas von Aquin anzuführen, dessen Kommentar bisher weder kritisch ediert noch in eine der gängigen Sprachen übersetzt worden ist.
Trotz dieser Problematik gelingt es den Autoren, die Balance zwischen Faktenanalyse (was sehr häufig Handschriftenanalyse heißt) und weiterreichenden Schlussfolgerungen zu halten. Die den Autoren vom Herausgeber an die Hand gegebenen Leitfragen tragen das ihre dazu bei, einer bloßen Aneinanderreihung von Aufsatz-Solitären entgegenzuwirken und eine Vergleichbarkeit der Beiträge zu gewährleisten. So weiß der Leser am Ende jedes Beitrags stets, wann und unter welchen Umständen der Kommentar verfasst wurde, wie dessen Verfasser einzuordnen ist, auf welche Quellen zurückgegriffen wurde, welchen geistigen Strömungen man sich verpflichtet fühlte, welche Strategien bei der Kommentierung verfolgt und welche Schwerpunkte gesetzt wurden und wie schließlich das jeweilige Werk nachfolgende Kommentare beeinflusste.
Marcia L. Colishs Untersuchung zur zwischen 1160-1170 entstandenen und von drei anonymen Kommentatoren fortgesetzten Glosse des Pseudo-Peter von Poitiers (1-34) belegt nicht nur, dass der Text bereits sehr früh - jedenfalls vor 1170 - in das Pecien-System der Pariser Buchhändler eingebunden war, sondern dass er auch noch im 13. Jahrhundert benutzt wurde, zu einer Zeit also, als bereits sehr viel fortschrittlichere Kommentare auf dem Markt waren. Ganz offensichtlich bestand ein Bedürfnis nach einer stringenten, klar gegliederten Einführung in die Sentenzen, das durch diese weder innovative noch geistig originelle Glossa befriedigt werden konnte.
Es waren also nicht unbedingt diejenigen Kommentare, in denen begnadete Theologen Zeugnis von ihrem intellektuellen Scharfsinn ablegten, die den Bedürfnissen des Schulbetriebs in Paris oder Oxford gerecht wurden. Tatsächlich dürfte die im Laufe des 13., vor allem aber im 14. Jahrhundert zu beobachtende Tendenz, sich in den Kommentaren immer stärker vom eigentlichen Sentenzen-Text zu lösen und ihn als Stichwortgeber für die Entwicklung eigener philosophisch-theologischer Systeme (die Grenzen verschwimmen hier) zu missbrauchen, Befremden hervorgerufen haben. Robert Grosseteste durfte sich bestätigt fühlen, hatte er doch zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausdrücklich davor gewarnt, Bibelstudien durch systematische Theologie - gemeint waren die Sentenzen - zu ersetzen. Doch bilden diese "Verselbständigungstendenzen" ein wichtiges Kapitel innerhalb der europäischen Geistesgeschichte. Dies wird in einigen Beiträgen eindrucksvoll demonstriert - dabei arbeitet man sich chronologisch von Stephen Langton (35-78), Alexander of Hales (79-109) und Hugo von Saint-Cher (111-147), über Thomas von Aquin (149-173) und Robert Kilwardby (175-222) bis hin zu William de la Mare (227-262), Richard Fitzralph (405-437) und Petrus von Candia (439-469) vor. Den Schlusspunkt bildet ein Beitrag zum Kommentar Martin Luthers (471-495).
Als herausragend darf die mit über 100 Seiten umfangreichste Untersuchung des gesamten Bandes gelten, in der sich William O. Duba, Russell L. Friedman und Chris Schabel mit den beiden Autoren Henry of Harclay und Aufredo Gonteri Brito beschäftigen (263-368). Harclays († 1317) Kommentar zum ersten Buch der Sentenzen - mehr ist nicht überliefert - nimmt innerhalb der Geschichte der Sentenzenkommentare einen besonderen Platz ein: von den im "Goldenen Zeitalter" (1250 bis 1348) von Weltpriestern verfassten Kommentaren ist derjenige von Harclay der früheste, umfangreichste, am häufigsten kopierte und einflussreichste. Deutlich sichtbar wird dieser Einfluss im Kommentar des Aufredo Gonteri Brito, der den größten Teil von Harclay wörtlich übernimmt. Gonteri schreckt auch im erhaltenen Kommentar zum zweiten und dritten Buch nicht davor zurück, sich großzügig bei anderen Autoren zu bedienen und damit ein umfangreiches opus secundum alium zu schaffen - die kritische Edition von Harclays Kommentar dürfte nach Berechnung der Autoren wohl rund 700, diejenige von Gonteri 5000 Druckseiten in Anspruch nehmen. Im Beitrag wird nicht nur die handschriftliche Überlieferung der beiden Kommentare aufgearbeitet und so die Basis für eine mögliche Edition der Texte gelegt, sondern auch eine vollständige Liste der in beiden Kommentaren behandelten Quaestionen mitgeliefert - ein unschätzbares Hilfsmittel, das bescheiden daherkommt, in dem jedoch ein Höchstmaß akribischer Arbeit steckt.
Olli Hallamaas Untersuchung des Kommentars von Roger Roseth (369-404) thematisiert einmal mehr die nur noch lose Verbindung von Sentenzentext und Kommentierung. Charakteristisch ist die starke Reduzierung der Quaestionen, verbunden mit einer Explosion des Umfangs - den vier Büchern, 182 Distinktionen und 933 Kapiteln des Petrus Lombardus stehen fünf Quaestionen und 17 Kapitel bei Roseth gegenüber. Biblische Zitate lassen sich an einer Hand abzählen, explizite Verweise auf die Sentenzen finden sich im gesamten Text gerade einmal sechs Mal. Wie ist dieses Missverhältnis von Titel und Inhalt zu erklären? Deutlich wird, dass der Lombarde für Roseth (und Konsorten) keine unumstößliche Autorität mehr markierte, sondern nur noch ein Autor unter vielen war. Durch die Titelgebung konnte ein theologischer Rahmen suggeriert werden, innerhalb dessen nach Belieben die Behandlung individueller Interessen möglich war.
Es bleibt zu wünschen, dass von der Fülle der erzielten Ergebnisse nicht nur der kleine, elitäre Kreis der Philosophie- und Theologiehistoriker profitiert. Die Sentenzen und in ihrem Schlepptau die Kommentare sind in ihrer Bedeutung für die geistig-intellektuelle Formung des universitären, kirchlichen und speziell kurialen Spitzenpersonals wohl kaum zu überschätzen. Für viele mittelalterliche Autoren liegen nun solide Prolegomena für mögliche kritische Editionen vor: die Chance sollte genutzt werden.
Anmerkungen:
[1] Philipp W. Rosemann: The story of a great medieval book. Peter Lombard's "Sentences", Peterborough 2007.
[2] Peter Lombard: The Sentences, übersetzt von Giulio Silano, 4 Bde., Toronto 2007-2011.
Ralf Lützelschwab