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Die Kritische Gesamtausgabe [KGA] der sämtlichen Schriften Friedrich Schleiermachers erscheint seit 1980 im Verlag Walter de Gruyter. Die Bände werden an zwei Forschungsstellen in Kiel und Berlin erarbeitet, die ihrerseits von den Akademien der Wissenschaften in Göttingen bzw. Berlin getragen werden. Über den Fortgang und die Einhaltung der editorischen Standards wacht ein - seit neuestem von Günter Meckenstock angeführter - Herausgeberkreis, der, wie bei Akademieprojekten üblich, noch einmal von einem wissenschaftlichen Beirat unterstützt wird.
Die Gesamtlast ist zwischen den beiden Forschungseinrichtungen so aufgeteilt, dass in Kiel zunächst die erste Abteilung "Schriften und Entwürfe" herausgegeben worden ist. Sie liegt mit fünfzehn Bänden vollständig vor. Mittlerweile widmen die dortigen Forscher sich dem Predigtwerk. Die Berliner Arbeitsstelle betreut den Briefwechsel einschließlich biographischer Dokumente, hat daneben aber auch bereits einige Bände aus den Vorlesungen vorgelegt. In jüngster Zeit ist das Programm um die Edition der Tageskalender erweitert worden. Noch nicht näher herangetreten ist man an die Abteilung "Übersetzungen".
Die Bedeutung der Ausgabe für die Schleiermacher-Forschung kann, das ist klar, nicht überschätzt werden. Doch auch für die Theologie insgesamt, für die Philosophie, die Literatur- und Kulturwissenschaften handelt es sich um ein unverzichtbares Unternehmen. Dass inzwischen das gesamte von Schleiermacher in Druck gegebene Schrifttum (mit Ausnahme der Übersetzungen) in textkritisch gesicherter Form vorliegt, versehen mit historischen und werkgeschichtlichen Erläuterungen sowie ergänzt um beträchtliche Mengen an dokumentarischen Materialien, war lange Zeit kaum zu erträumen. Generationen von Wissenschaftlern haben den Mangel einer zulänglichen Gesamtausgabe immer wieder beklagt, und für die Diskussionslage innerhalb der evangelischen Theologie besonders nach dem Ersten Weltkrieg ist daraus ein schwerer Schaden erwachsen. Und doch war es aus verschiedenen Gründen nicht möglich, die Situation zu ändern, bis dann die theologie- und kirchenpolitische Lage eine Rückbesinnung auf Schleiermacher, die intellektuelle Zentralgestalt des Neuprotestantismus, wieder zugelassen hat.
Hier anzuzeigen sind zwei neue Briefbände sowie zwei Vorlesungseditionen, davon die eine als Seitenstück zur KGA, die andere außerhalb der Ausgabe.
Mit dem achten Band erreicht der Briefwechsel eine wichtige Etappe in Schleiermachers Biographie, denn nun, fast sechsunddreißig Jahre alt, tritt dieser, nach zuletzt sehr mühsamen und unerquicklichen Jahren als Pfarrer, in das erstrebte akademische Lehramt ein. Der Band umfasst die Zeit von Oktober 1804 bis Ende März 1806, also die erste Phase seines Wirkens als Theologie- (und Philosophie-)professor in Halle. Von den insgesamt 343 Briefen (183 an, 160 von ihm geschriebene) werden 25 eigene hier erstmals vollständig und 109 überhaupt erstmals ediert, davon 88 an und 21 von Schleiermacher. 125 der dokumentierten Stücke konnten nur erschlossen werden; ein Text ist nicht überliefert.
Schleiermachers Briefe spiegeln die Orientierungsschwierigkeiten, denen er in der unvertrauten Stellung zunächst ausgesetzt war, im Umgang mit Kollegen und Studenten oder bei den Behördenkontakten. Auch war etwa der akademische Gottesdienst noch ganz ungeregelt, den er zu verantworten hatte. Außerdem geht es immer wieder um die diversen Arbeits- und Publikationsprojekte, darunter die Platonübersetzung, und um Aspekte der Lebensführung und Alltagsbewältigung (Reisen, Finanzdinge). Gerade private Sorgen trieben Schleiermacher in dieser Zeit um, hatte er sich doch auf eine Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau eingelassen, die ihm viele Probleme bereitete.
Den Zeitraum von April 1806 bis Ende 1807, als Schleiermacher endgültig nach Berlin übersiedelte, umfasst der neunte Band. Das Sommersemester 1806 ist in mehrfacher Hinsicht markant, sowohl für die Ausbildung seiner theologischen Konzeption, wie auch biographisch: Erstmals trägt er eine Vorlesung über Christliche Sittenlehre vor, eine Disziplin, die neben der Glaubenslehre zu seinem Hauptgegenstand werden wird. Stark betroffen ist Schleiermacher vom Zusammenbruch Preußens, in dessen Folge Halle besetzt und die Universität geschlossen wird. Im Sommer 1807 beginnt er in Berlin Privatvorlesungen zu halten, von der Hoffnung getragen, hier eine dauerhafte kirchliche und akademische Wirkungsstätte zu finden. Aus diesen Monaten stammen einige der wichtigsten Briefe überhaupt. Sie werfen ein helles Licht auf Schleiermachers Verarbeitung der Geschehnisse, nicht zuletzt auch, indem der politischen Reflexion breiter Raum gewidmet ist.
Der Band bietet 185 von ihm selbst geschriebene und 240 an ihn gerichtete Briefe, wobei 127 Stücke nur erschlossen werden konnten. Der Band erweitert unsere Kenntnis erheblich: 177 Briefe werden hier überhaupt erstmals ediert, 41 zum ersten Mal vollständig. Wieder bietet der Band, wie alle vorangegangenen auch, eine sehr gute historische Einführung und konzentrierte Erläuterungen zu den einzelnen Stücken. Der besondere Wert der Edition beruht aber vor allem auf der Vollständigkeit der Textwiedergabe, denn das Kürzungsunwesen (oft unter Verzicht auf Kenntlichmachung der betreffenden Stellen) hat alle bisherigen Briefausgaben stark beeinträchtigt, einschließlich der verbreiteten Bände Heinrich Meissners.
Angesichts der diversen, offensichtlich unvermeidlichen Diskussionsrunden darüber, wie man wissenschaftliche Editionen verbilligen könnte, ist es einfach eine Wohltat, diese beiden grundsoliden Bände in die Hand zu nehmen. Sie stellen auch insofern ein wichtiges Momentum in der Publikation des Briefwechsels dar, als mit ihnen nun die gesamte Phase bis zum Ende der Hallenser Jahre komplett bearbeitet ist. Das gesamte weitere Leben Schleiermachers bis zu seinem Tod im Februar 1834 hatte seinen festen Mittelpunkt in der preußischen Haupt- und Residenzstadt.
Schleiermacher war ein Kommunikationsgenie. Zudem verwickelten ihn die Pfade des Lebens seit Antritt der ersten akademischen Position in immer zahlreichere private und amtliche Beziehungen, weshalb auch sein Schriftverkehr beständig anwuchs. Da aber viele Korrespondenzpartner, etwa kirchliche und kultusbürokratische Beamte, wenig in Erscheinung getreten sind, besteht ein anderer wesentlicher Vorzug der KGA darin, dass sie auch die Briefe an Schleiermacher bietet. Erst aus der Gegenüberstellung der Briefe "von" und "an" ihn ist es möglich, das ganze Gewicht der Korrespondenz zu erfassen. Auf diesen Umstand muss deshalb so entschieden hingewiesen werden, weil in der Vergangenheit, zur Straffung des Materials und Beschleunigung der Edition, anderslautende Vorschläge und Forderungen erhoben worden sind. Man kann nur froh sein, dass es den Herausgebern und Bearbeitern bisher gelungen ist, dem zu widerstehen und so den außerordentlichen Rang ihrer Ausgabe zu bewahren.
Eine große Herausforderung stellt die Edition der Vorlesungen dar. So dominant nun auch insgesamt die Kritische Gesamtausgabe auf diesem Feld ist, ein Monopol auf die Darbietung der Texte hat sie natürlich nicht. Zahlreiche Materialien, darunter wichtige, harren noch der Veröffentlichung, und deshalb ist es insgesamt bedauerlich, dass diese KGA-Abteilung noch nicht sehr weit vorangekommen ist. Die Arbeit an ihr begann zwar bereits 1989, jedoch wurde - wie es auf der Internetseite des Verlages heißt - "deren Gedeihen durch personelle Sparmaßnahmen nach dem Erscheinen des Musterbandes 1998 behindert". Erschienen sind bisher vier Bände (Die Lehre vom Staat, 1998; Dialektik, 2002; Kirchliche Geographie und Statistik, 2005; Kirchengeschichte, 2006); für Ende 2012 ist der Band zur "Hermeneutik und Kritik" angekündigt. Leider fehlen noch alle wichtigen theologischen Vorlesungen, und es sieht so aus, als wenn sich daran demnächst nichts ändern würde.
Seinen eigenen Weg ist Hermann Peiter gegangen. Er präsentiert jetzt in einem umfangreichen Band drei Hörernachschriften zur Vorlesung über Christliche Sittenlehre aus dem Wintersemester 1826/27. Dabei greift er auf eine frühere Ausgabe aus dem Jahre 1969 zurück, die zwar inzwischen einen legendären Status genießt, aber, weil es sich um eine sogenannte "Ormigausgabe" handelt, immer schwerer zu benutzen ist. Die Sittenlehre-Edition bildet das Kernstück von Peiters wissenschaftlichem Lebenswerk, und so ist es zunächst einmal sehr erfreulich, dass es ihm nun gelungen ist, das seinerzeit unter widrigen Bedingungen erarbeitete Textcorpus in eine gesicherte Form zu bringen.
Die Einleitungspassagen hatte er schon 1983 im Kohlhammer-Verlag publiziert, doch ist der kleine Band (der auch einen informativen Text von Martin Honecker enthält) seit langem vergriffen. Die jetzt vorliegende Edition bietet, wie Peiter beansprucht, eine kritische Textfassung. Die zu dieser Vorlesung vorhandenen Schleiermacherschen Manuskripte will er in einem zweiten Band nachliefern.
Zunächst muss man wissen, dass die theologische Ethik in Schleiermachers wissenschaftstheoretischem und theologischem Konzept gleichrangig neben der Glaubenslehre steht. Beide Disziplinen hat er oft vorgetragen. Von der Glaubenslehre erschien 1821/22 und in veränderter Form 1830/31 eine Druckfassung (unter dem Titel Der christliche Glaube), womit Schleiermacher nicht nur sein Hauptwerk, sondern auch eines der wichtigsten Werke der protestantischen Theologiegeschichte geschaffen hat. Sein Ruhm beruht in erster Linie auf diesem Text.
Die theologische Ethik blieb demgegenüber ungeschrieben. Erst nach seinem Tod hat Schleiermachers Schüler Ludwig Jonas aufgrund von Nachschriften eine Druckfassung erarbeitet, die er, angelehnt an die Glaubenslehre, mit dem Titel Die christliche Sitte versah. Jonas legte dabei Nachschriften aus dem Wintersemester 1822/23 zugrunde. Hierfür konnte er sich auf Schleiermachers Selbsteinschätzung berufen, der mit dieser Version ein publikables Niveau erreicht zu haben meinte.
Peiter ist nun der Auffassung, dass die von ihm privilegierte Vorlesungsfassung den Vorzug verdient. Hierüber kann man diskutieren, und tatsächlich haben ja auch andernorts (zum Beispiel im Falle der Hegelschen Rechtsphilosophie) neue Vorlesungseditionen gegenüber dem etablierten Text durchaus zu Bereicherungen und Interpretationsfortschritten geführt.
Das Problem bei Peiter ist das Editionsverfahren. Denn er bietet nicht etwa, was doch das reguläre wäre, eine einzelne Nachschrift in voller Gänze, zu der dann signifikante Abweichungen aus anderen Nachschriften gesondert mitgeteilt würden. Vielmehr formt er aus dem vorhandenen Material durch Ineinanderschachtelung einen "Haupttext", den er für eine Art "beste" Gestalt erklärt. Die Unterschiede werden durch Abweichungen in der Drucktype markiert und zum Teil in einem kritischen Apparat mitgeteilt.
Peiter ist an dieser entscheidenden Stelle von erstaunlicher Unbedarftheit. Zwar tritt er mit einem hohen Anspruch an die eigene editorische Arbeit auf, und auch seine Kritik an den stringenten methodischen Vorgaben der KGA-Herausgeber klingt ähnlich harsch. Tatsächlich aber löst das, was er selbst zu bieten hat, weder jenen Anspruch ein, noch setzt es ihn gegenüber den Kontrahenten ins Recht. Im Kern erklärt Peiter die editorischen Grundsätze bei der Bearbeitung von Vorlesungsnachschriften für variabel, weil materialabhängig. Ein Editor sollte sich "immer aufs neue, von Fall zu Fall um den bestmöglichen Text bemühen". Weichen die Nachschriften voneinander ab, so erfolgt die Entscheidung darüber, "welche Nachschrift die 'beste' ist und in den Haupttext erhoben zu werden verdient, [...] von Satz zu Satz, von Wort zu Wort, ja mitunter von Buchstabe zu Buchstabe" (LVI). Und daher heißt es denn auch unumwunden: "Der Haupttext wird aus den Nachschriften [...] kompiliert."
Indem er den edierten Text quasi selbst geschaffen hat, arbeitet Peiter im Grunde so, wie es die Editoren aus der Schülergeneration Schleiermachers und Hegels getan haben. Dieses Verfahren genügt aber den heute geltenden wissenschaftlichen Ansprüchen nicht, und auch der von Peiter einleitend in seiner Wichtigkeit sehr exponierte textkritische Apparat hebt das grundsätzlich Unzulängliche nicht auf. Insofern ist es unverständlich, wenn er sich nun auch jetzt wieder über die Zurückweisung beklagt, die er seitens der KGA-Herausgeber erfahren musste. Es hilft da auch nicht, wenn er demgegenüber Wissenschaftler namentlich nennt, die seine Forschungen "mit großem Wohlwollen begleitet" haben.
Die der Sache nach interessanten Ausführungen Schleiermachers zum gesamten Themenkomplex der theologischen Ethik lassen sich auch aus Peiters Ausgabe ersehen. Der große Systematiker hat sich allerdings in dieser Vorlesung noch stärker als in derjenigen über die Glaubenslehre von dem Ehrgeiz leiten lassen, eine ausdifferenzierte Schematik zu entwickeln, die jedem einzelnen Sachverhalt seinen genau definierbaren Ort zuweist. Auch in Peiters Edition haftet den Ausführungen deshalb durchweg etwas Steriles an. Ständig geht es um Methodik, um Struktur- und Zuordnungsfragen. Die Grundunterscheidung von "wirksamem" und "darstellendem Handeln" tritt hier bisweilen sogar noch schärfer hervor als bei Jonas. Das gleiche gilt für die anderen tragenden Gegensätze, wie den zwischen "gegenwirkendem" und "positiv wirksamem Handeln", zwischen Handeln innerhalb und außerhalb der Kirche, extensiv und intensiv "verbreitendem Handeln" oder innerer und äußerer Sphäre des Gottesdienstes.
So gesehen ist Peiters Band ein gutes Instrument, um Schleiermachers Gedankenentwicklung transparenter zu machen. Und überhaupt ist das Verdienst anzuerkennen, das sich der Herausgeber erworben hat. Hierüber kann auch dann kein vernünftig begründeter Zweifel bestehen, wenn wegen des vorläufigen Fehlens des zweiten Teilbandes noch manche Frage offenbleibt.
Auch sind die Bemerkungen, die er zu den Editionsprinzipien der bis jetzt vorliegenden KGA-Vorlesungsbände macht, im einzelnen nicht von der Hand zu weisen. Zu recht kritisiert er, dass es erhebliche methodische Abweichungen zwischen der Vorgehensweise der Editoren gibt und insofern auch bei der KGA bereits, wenngleich gegen die eigenen Vorgaben, die editorischen Grundsätze mehr oder weniger konstruktiv gehandhabt worden sind. Und selbst seinem realistischen Votum über die oft doch sehr begrenzte Aussagekraft der Schleiermacherschen Originalmanuskripte gegenüber derjenigen der Nachschriften wird jeder Kundige zustimmen.
Selbst dieser letzte Punkt kann aber keine Auswirkung auf die Frage der editorischen Präsentation des Materials haben. Es muss generell dabei bleiben, dass Aspekte der inhaltlichen Qualität bei der technischen Anlage einer Kritischen Ausgabe zurückzutreten haben. Eine zentrale Rolle (neben dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit) spielen sie bei der Herausgabe von Vorlesungsnachschriften dann, wenn mehrere Versionen vorliegen und es um die Festlegung des Leittextes geht. Dass aber ein Editor sein Geschäft in Form eines kreativen Aktes versieht, indem er zwischen den Versionen hin- und herspringt und sich ihrer wie Bausteine bedient, kann - jedenfalls vom Anspruch einer Kritischen Ausgabe her - nicht akzeptiert werden.
Ganz anderes gehen demgegenüber die Herausgeber von Schleiermachers Pädagogik-Vorlesung (Theorie der Erziehung) aus dem Wintersemester 1820/21 vor. Ehrhardt und Virmond konnten dafür auf eine "unlängst aus Privatbesitz aufgetauchte Nachschrift" zurückgreifen, die sie, was philologische Details betrifft, "in vereinfachter Gestalt" und ohne kritischen Apparat, dafür mit hilfreichen Sachanmerkungen darbieten.
Die Pädagogik stellt die Editoren seit langem vor Probleme. Über die Schwierigkeiten berichten die Herausgeber in einer äußerst kompetenten Einleitung. Ihre fünfzigseitige Darlegung ist zugleich eine Einführung in Schleiermachers komplexe Pädagogikkonzeption. Diese hat in den letzten Jahren viel Beachtung gefunden, ist aber auch (von Matthias Blum) wegen des in ihr sich findenden antijüdischen Tones kritisiert worden. Dass nun Schleiermacher doch mit Recht als Klassiker der Disziplin gelten kann, unterliegt nach dem Beitrag Ehrhardts und Virmonds keinem Zweifel mehr.
Die Einleitung erörtert zunächst die Überlieferung der Vorlesung von 1820/21. Deren Bedeutung ergibt sich einfach daraus, dass diese Vorlesung in der hier edierten Nachschrift in vollem Umfang festgehalten ist. Das ist insofern wichtig, als die wirkungsgeschichtlich dominante Version, die Carl Platz 1849 auf der Grundlage der Vorlesung des Sommersemesters 1826 herausgegeben hat, das Ergebnis eines im einzelnen schwer durchschaubaren Kompilationsprozesses ist. Zudem werden von ihm gewisse thematische Schwerpunktsetzungen vorgenommen (vor allem bei den Themen "Strafe" und "Zucht"), die problematisch und für den Leser unkontrollierbar sind. Mit der nunmehr verfügbaren Ausgabe besteht dagegen erstmals die Möglichkeit, Schleiermachers Pädagogikvorlesung in einem Zustand zu studieren, der dem originalen Vortrag sehr nahe kommt.
Im Sommersemester 1820/21 stand Schleiermacher auf der Höhe seiner intellektuellen Entwicklung. Die inzwischen erreichte konzeptionelle Form der theologischen und philosophischen Überlegungen ließ ihn seiner Sache sicher sein. In der Pädagogik kommt jetzt der polare Charakter des Erziehungsbegriffes deutlich zur Geltung: Erziehung ist immer sowohl Unterstützung als auch Gegenwirkung. Deshalb lehnt Schleiermacher jede einseitig mit den Anforderungen eines bestimmten Gesellschaftstyps verbundene Erziehung ab. Sie sei vielmehr auf das Ziel eines sowohl umfassenden, universellen (das heißt auf die sozialen und kulturellen Institutionen bezogenen), als auch individuellen Bildungserwerbs auszurichten. Die Pädagogik steht insofern in einem engen Verhältnis zu Schleiermachers Individualitätstheorie, die ihrerseits wieder sein Religionsverständnis stark geprägt hat. Weitere Aspekte sind die Korrelation von privater und öffentlicher Erziehung, der öffentliche Schulunterricht (ein in diesem Kolleg ganz neu eintretendes Thema), geschlechterspezifische Fragen der Erziehungspraxis und die Anbindung der Pädagogik an die Psychologie.
Die Erziehung kann nach Schleiermacher "nicht das im Menschen entwickeln, was sie will, sondern was in ihm liegt" (so in der 36. Vorlesungsstunde am 29. Januar 1821). Es ist eine interessante Leitfrage an die Lektüre, wie - und ob immer konsequent - er diese Maxime in den Ausführungen im Einzelnen und zu den Details des erzieherischen Prozesses umgesetzt hat. Die unprätentiöse, angenehm handhabbare Edition von Ehrhardt und Virmond gibt dazu alle Mittel an die Hand.
Matthias Wolfes