Sabine Bengel: Das Straßburger Münster. Seine Ostteile und die Südquerhauswerkstatt (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 84), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011, 336 S., 28 Farb-, 389 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-448-6, EUR 79,00
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Sabine Bengel hat sich mit ihrer Dissertation über das Südquerhaus des Straßburger Münsters keine kleine Aufgabe vorgenommen. Seine Architektur, vor allem aber die Skulpturen des Engelspfeilers sowie des Südportales gelten als Inkunabeln der Gotik im deutschen Sprachraum. Sie sind ein klassisches Forschungsthema der europäischen mediävistischen Kunstgeschichte, an dem sich die großen Namen der Zunft seit nunmehr über 100 Jahren abarbeiten.
Das großformatige, schön bebilderte Buch ist in fünf Hauptkapitel unterteilt. Auf eine knappe, aber präzise Zusammenfassung der Forschungsgeschichte folgen zwei baugeschichtliche Kapitel. Während das erste die Errichtung der Ostteile vor dem Eintreffen der von der Autorin sogenannten Südquerhauswerkstatt nachzeichnet, behandelt das zweite sehr ausführlich die Aktivitäten dieser Südquerhauswerkstatt, einschließlich der kunstgeschichtlichen Einordnung und Datierung von Skulptur und Architektur. Die letzten beiden Kapitel sind zum einen den Fragen um Topografie, Funktionen und Bildprogramme der Ostteile des Münsters gewidmet, zum anderen dem Themenkomplex Auftraggeberschaft und Baufinanzierung.
Was den baugeschichtlichen Teil der Arbeit angeht, so bewegt sich Sabine Bengel im von der jüngsten Forschung vorgegebenen Rahmen. Wie Jean-Philippe Meyer [1] unterscheidet sie drei wesentliche Bauphasen für den Neubau der Ostpartien: den Anfang machten ab etwa 1180 der Chor mitsamt der Vierung, zwischen etwa 1190 und 1210 folgte die Errichtung des nördlichen Querhausarmes sowie der Portalzone des Südquerhauses. Die im romanisch-gotischen Übergangsstil errichteten oberen Teile des Südquerhauses gelten ebenso wie die Portalskulpturen und der Engelspfeiler als das Werk eines neu angekommenen Bautrupps, der Südquerhauswerkstatt, und werden von der Autorin zwischen etwa 1210 und 1220/25 datiert. Damit folgt sie der mehrheitlichen Tendenz der jüngeren Forschung, die Skulpturen des Südportals, insbesondere Ecclesia und Synagoge, vor das Jahr 1225 zu setzen. Hauptgründe dafür sind die stilistischen Bezüge zu den durch die Arbeiten Manfred Schullers sehr präzise auf 1224/25 datierten Skulpturen des Bamberger Fürstenportals [2] sowie das Aufgreifen der Straßburger Figuren am inschriftlich auf das Jahr 1225 datierten Nanthelmusschrein aus Saint-Maurice im Wallis.
Birgt dieser Teil des Buches im Ergebnis auch keine großen Überraschungen, so ist gleichwohl die Sorgfalt hervorzuheben, mit der die Autorin bekannte Vergleichsbeispiele behandelt, wie den Wormser Dom oder die Chartreser Querhausskulptur, aber auch weniger Bekanntes, wie St. Stephan in Straßburg oder die Kloster- bzw. Stiftskirchen von Schwarzach und Obersteigen. So verdienstvoll diese Vergleiche sind, so wenig hilfreich sind sie leider für eine Präzisierung der absoluten Chronologie. Sie demonstrieren dafür sehr anschaulich die Schwierigkeit rein stilgeschichtlicher Datierungen, wenn keines der Werke in einer Reihe sicher datierbar ist. Auch wenn ein Netz künstlerischer Beziehungen klar erkennbar wird, bleiben in solchen Fällen Einflussrichtungen und chronologische Abfolgen mehr oder weniger subjektiven Einschätzungen unterworfen, die immer wieder angezweifelt werden können.
Wirkliches Neuland hat Sabine Bengel mit dem zweiten Teil ihres Buches betreten, der so spannenden Fragen nachgeht wie denjenigen nach den Funktionen der Bauteile, ihrer liturgischen und profanen Nutzung, oder denjenigen nach der Auftraggeberschaft, der Baufinanzierung und den Rollen des Domkapitels und der Stadtbürgerschaft. Das erste der beiden Kapitel behandelt das Bildprogramm von Skulptur und Glasmalerei vor dem Hintergrund der sakralen Topografie und den nachweisbaren Funktionen bestimmter Raumabschnitte. Zwar war auch bislang schon der Zusammenhang beispielsweise zwischen der Nutzung des Südportals als Gerichtsstätte und der um Salomo und Maria kreisenden Ikonografie bekannt. Sabine Bengel gelang es aber, die Summe aus der bisherigen Forschung zu ziehen und die akribisch recherchierten Einzelheiten zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Ganz neu sind schließlich die Überlegungen der Autorin zur Frage nach Auftraggebern und Stiftern, denen das letzte Kapitel vorbehalten ist. Barbara Schock-Werner hat diesen Problemkreis für den Ausbau der Straßburger Westfassade bereits einmal thematisiert. [3] Zu den älteren Bauteilen des Münsters aber hat man diesbezüglich bisher kaum etwas gelesen, und das wenige Bekannte musste der interessierte Leser aus teils entlegen publizierten Quellen zusammentragen. Zu Recht stellt Sabine Bengel die übliche Fixierung der Kunstgeschichte auf die als historische Figuren leichter fassbaren Bischöfe in Frage und hebt im Anschluss an Wolfgang Schöller die Bedeutung des Domkapitels als Auftraggeber hervor. [4] Auch die Frage nach dem Anteil der Bürgerschaft wird thematisiert. Besonders verdienstvoll ist dabei die Art und Weise, wie Sabine Bengel dem "Sabina-Problem" begegnet. Den Ausgangspunkt bildete eine heute verschwundene Inschrift am Südportal, welche eine Stifterin namens Savina nannte. In romantischer Verklärung wurde im Zuge der Mythisierung Meister Erwins daraus die Bildhauerin Sabine von Steinbach, eine mutmaßliche Tochter Erwins. Bengel schafft Klarheit, indem sie die Quellenlage und die Forschungsgeschichte ausführlich darstellt. In der Trennung von Mythos und historischer Faktenlage schält sich das faszinierende Phänomen einer bedeutenden bürgerlichen Stifterin heraus, das von der Autorin im Spannungsfeld von mittelalterlicher Frauenfrömmigkeit und spezifisch weiblichen Formen von Stiftertätigkeit verortet wird.
Sabine Bengel hat zweifellos ein wichtiges Buch zu einem wichtigen Thema vorgelegt. Es sei hier nicht aber verschwiegen, dass praktisch gleichzeitig mit dem vorliegenden Band eine Monografie in französischer Sprache zum selben Thema erschienen ist. [5] Dies ist insbesondere deshalb von Belang, weil die Autoren - Jean-Philippe Meyer und Brigitte Kurmann-Schwarz - in Teilen zu abweichenden Ergebnissen gelangen. Dies betrifft mit der Datierung der frühgotischen Partien des Südquerhauses, die einschließlich des Engelspfeilers deutlich später angesetzt werden, und mit dem für die Einbindung der Skulptur so kritischen Bauablauf am Südportal ausgerechnet die kunstgeschichtlich besonders heiklen Fragestellungen.
Dies soll das Verdienst von Sabine Bengels Arbeit nicht schmälern. Die Forschungsdebatte wird aber weitergehen.
Anmerkungen:
[1] Jean-Philippe Meyer: La cathédrale de Strasbourg. La cathédrale romane (1015 - vers 1180), Strasbourg 1998. Idem: Voûtes romanes. Architecture religieuse en Alsace de l'an mil au début du XIIIe siècle, Strasbourg 2003.
[2] Manfred Schuller: Das Fürstenportal des Bamberger Domes, Bamberg 1993.
[3] Barbara Schock-Werner: Das Strassburger Münster im 15. Jahrhundert. Stilistische Entwicklung und Hüttenorganisation eines Bürger-Doms, Köln 1981.
[4] Wolfgang Schöller: Die rechtliche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaues. Baulast - Bauherrenschaft - Baufinanzierung, Köln / Weimar 1989, 153-165.
[5] Jean-Philippe Meyer / Brigitte Kurmann-Schwarz: La cathédrale de Strasbourg. Chœur et transept: de l'art roman au gothique, Straßburg 2010.
Marc Carel Schurr