Aufbruch. Malerei und realer Raum. Gesamtkonzept: Alexander und Silke von Berswordt-Wallrabe, Britta E. Buhlmann und Erich Franz, Heidelberg: Wunderhorn 2011, 279 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-88423-386-3, EUR 24,00
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Malerei oder Plastik: Welche Kategorie hat die Vorherrschaft? Seit der Renaissance konnte man sich über diese Frage die Haare raufen, doch im Barock und vor allem im 20. Jahrhundert nahm man sie gelassen und suchte nach Synthesen. Das Buch "Aufbruch" und die zugehörige Bochumer Ausstellung greifen Lösungen der modernen Kunst auf. Die Ausstellungsarchitektur passt dazu hervorragend, denn der neue gläserne Kubus "Situation Kunst" des Hauses Weitmar im Bochumer Museumspark "öffnet" sich schon selbst zum realen Licht. Zu diesem Thema haben die Veranstalter, vorrangig der Gründer etlicher Museumsbauten im Ensemble, zudem Altgalerist seiner verkauften "Galerie m", Alexander von Berswordt-Wallrabe und seine Frau Silke, ein umfangreiches Buch veröffentlicht, das seinesgleichen sucht.
Gemeint ist ein anspruchsvolles und zutiefst künstlerisches Thema: Die vom Künstler gemalte Fläche bezieht sich auf den Raum, wirkt auf ihn ein, oder bringt selbst Elemente hervor, die den Raum in die Fiktion der tatsächlichen Fläche einbeziehen oder - und das ist vor allem entscheidend - vice versa. Der alte paragone-Begriff aus der Renaissance, benutzt für den Kampf um die Vorherrschaft der rein imaginativen Malerei gegenüber der raumausgreifenden und deshalb der Wirklichkeit allzu nahen Skulptur, sollte in diesem "Aufbruch" überwunden werden. Für Ideen und den Haupttext zeichnet Erich Franz, ehemaliger Münsteraner Kurator des dortigen Landesmuseums, verantwortlich. Zusätzlich wird jeder der genannten 58 Künstler mit Kurztexten von bekannten Autoren oder Studierenden der Ruhr-Universität Bochum vorgestellt. Diese Verbindung zur Universität ist im Gründungsvertrag des Museums verankert, da von Berswordt-Wallrabe als begeisterter Freund des verstorbenen Kunsthistorikers Max Imdahl dessen geistiges Erbe fortsetzt, und das im Museum vor Originalen statt vor Dias.
Vielen Kurztexten im Buch "Aufbruch" merkt man dieses von Imdahl inspirierte Erbe an, da dieser es liebte, sich den Kunstwerken im Sehen beschreibend und wiederkreierend zu nähern, Kunsthistorisches so wenig und so kurz wie möglich und nötig hinzuzuziehen, und vor allem darauf zu vertrauen, dass alles zu Sagende bereits im Kunstwerk selbst vorhanden und im hingegebenen Sehen und Aussprechen zu entschlüsseln wäre. Mit dieser methodischen Auffassung entfachte Imdahl an der Bochumer Universität damals eine fruchtbare und heftige Debatte. Nicht alle Autoren gehen im Buch den gleichen Weg (übrigens mit wechselndem Erfolg), vor allem Erich Franz nicht, der sein Thema nach eigens gewählten Aspekten strukturiert hat, sodass aus Kapiteln Raumeinteilungen für die Kunst-Präsentation gefunden wurden: "Aufbruch 1950-60, die Öffnung des Bildes, die Dynamik konstruktiver Einheiten, Leere und Fülle - Verwandlungen der Substanz" und schließlich: "Malerei im realen Raum". Es handelt sich um keine geeichten kunsthistorischen Einteilungen, eher um phänomenologisch geprägte und hermeneutisch erfasste Gruppeneinteilungen. Wohl deshalb wurde dem Franz'schen Text, in dem jeder Künstler kurz mit einem Kontext und treffenden Zitaten vermittelt wird, der jedoch keinen philosophischen oder kunsthistorischen Überbau vorsieht, am Schluss des Buches noch ein dynamischer Aufsatz von Robert Kudielka über den realen Raum und die Realien der Malerei angehängt. Hier erinnert der Autor an ehemalige Ausstellungen wie die berühmte Zürcher "Art of the Real" (1969), die die Diskussion neben Kunstbewegungen wie Pop Art, Op Art, Fluxus, Konzept Art und Konkreter Kunst nachhaltig geprägt hat. Aus der damaligen Schau wurde von dem Bochumer spin-out-Projekt des "Aufbruchs" (Vorträge, Künstler-Gespräche und Arbeiten von Studenten sind hier stets ein bewährtes Muster) kein Vertreter integriert. Stattdessen berufen sich die Bochumer auf die Existenz eines weiten Feldes internationaler Kunstwerke, deren Urheber zum kleineren Teil berühmt (W. Strzeminsky, Arman, Tapiès, Morellet, E. Schumacher, R. Geiger, G. Frühtrunk, B. Riley) oder bekannt sind, setzen zumeist aber auf neue Namen, Grund also für Überraschungen und ein vorbehaltloses Betrachten der ausgezeichneten Abbildungen (Dounia Oualit, Ulrich Gehret, Sabine Strassburger u.a.). Spielkartenähnlich vermischt bewirken sie eine fröhliche Art zu sehen: alterslos und gleichwertig. Wichtig ist nur ihr Bezug zum jeweiligen Struktur-Aspekt. Kunstgeschichte wird nun zur Begleitung des Auges, unbekümmert um Geschichts- und Qualitätsfragen. Selbst Kudielka nennt an sich nur wenige historische Ausstellungen, beispielsweise fehlt sein Hinweis auf die entscheidende Ausstellung für den Übergang vom Informell zu Zero- und Nouvelle Tendance: "Anti-Peinture" im Antwerpener Hessenhuis (1962). Von den damaligen Künstlern wurde zwar als einziger Günther Uecker in das "Aufbruch"-Projekt integriert, nicht aber Adolf Luthers frühe, stark pastose abstrakte Bilder, obwohl sie denen der wohl im Buch aufgenommenen Werke von Jürgen Meyer auffallend gleichen. Argumente zur Auswahl fehlen, auch im Vorwort des Buches wird die Selektion der Künstler nicht verantwortet.
Ziel des Buches ist es, "etwas Gewagtes und Gefährdetes" (Franz) zu vermitteln, künstlerische Probleme, die von "Lebensgefühl und Zeitgeist" nicht zu erfassen seien. Das Buch öffnet dem Leser Erinnerungen an viele weitere Künstler, die hier nicht vorkommen, z.B. an Richard Smith, Jan Schoonhoven, Enrico Castellani, Manzoni, Alan Charlton. Es sind subtile Werke dabei, die Farb- und Raumnuancen miteinander verbinden und ohne Pathos oder 'Lautstärke' auskommen, ohne den "moralischen Finger" in den realen Umraum zu erheben, wie es der zeitgenössischen Kunst oft eignet. Diese Kunst lässt sich im Augenblick der Wahrnehmung erleben, nicht im aktuellen Zeitgeschehen. Ein überraschend wichtiger Schritt in ein offensichtlich weites Feld ist mit diesem Buch getan. Nun aber braucht es weitere Überlegungen zu dem, was diese Kunst an ästhetischen Zielen eint und wie in jedem Falle einzeln der visuell und haptisch gemeinsam wahrzunehmende Zwischenbereich im Betrachter eine besondere Form der Sensibilität entwickeln hilft und warum diese Kunst einen eigenen kunsthistorischen Strang beanspruchen kann.
Antje von Graevenitz