Sven Jüngerkes: Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941-1945. Eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen (= Historische Kulturwissenschaft; 15), Konstanz: UVK 2010, 575 S., ISBN 978-3-86764-270-5, EUR 69,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Sven Jüngerkes' Konstanzer Doktorarbeit schließt eine Lücke: So ausführlich ist die deutsche Besatzungsverwaltung im baltischen Teil des "Reichskommissariats für das Ostland" noch nicht untersucht worden, auch wenn sich diese Studie auf Lettland beschränkt. Es ist eine minuziöse Abhandlung, an deren Stil man sich jedoch erst gewöhnen muss. Zum einen ist die Perspektive einer effizienten Verwaltung, aus der Jüngerkes schreibt, für die nationalsozialistische Diktatur schon deshalb ungewöhnlich, weil man sich eigentlich kaum vorstellen mag, was passiert wäre, wenn all die verschiedenen Instanzen der Zivilverwaltung, der Wehrmacht und der SS, um nur die wichtigsten zu nennen, tatsächlich nicht nur bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung so "effektiv" gewesen wären. Zum anderen wäre es aber der Lesefreundlichkeit wegen notwendig gewesen, den Text stilistisch gründlich zu überarbeiten und all die sprachlichen Hinterlassenschaften einer intensiven Quellenlektüre des Ostland-Deutsch der Jahre 1941-1945 zu entfernen, die auf der Strecke von fast 600 Seiten dem Sprachfluss nicht nur hier und da entgegenstehen. Begriffe wie "Vernichtung von Feindresten" (72), "Volksdeutsche" (158) oder "Judeneinsatz" (494) wären dabei wenigstens zu ihren wohlverdienten Anführungszeichen gekommen und zahlreiche falsche Kommata getilgt worden. Zwar ist sprachliche Unvollkommenheit bei Qualifikationsarbeiten aufgrund des Zeitdrucks wohl unvermeidlich, doch sollte sie nicht auch in die Druckfassung Eingang finden. Damit dürfte dieser Band ein typischer Fall dafür sein, dass Verwendungsrichtlinien bewilligter Gelder nur allzu oft zeitliche Fristen vorsehen, die sich dann nachteilig auf das Endprodukt auswirken.
Aber kommen wir zu den Inhalten von Jüngerkes' Arbeit, die eigentlich erst auf Seite 62 mit einem Einstieg in das "Unternehmen Barbarossa" und dann auf Seite 96 mit der Genese von Alfred Rosenbergs Ostministerium einsetzt. Die umfangreiche historische Einführung in die Beziehungen Deutschlands zum Baltikum, die innere Entwicklung Lettlands in der Zwischenkriegszeit und der Überblick über den deutschen Angriff 1941, die sich auf den ersten gut 90 Seiten findet, wäre auf einem Viertel des beanspruchten Raumes nicht weniger aussagekräftig gewesen, zumal hier nichts wesentlich Neues und zum Teil auch Veraltetes (zum Beispiel zu den Freiheitskriegen 1918-1920) aufgetischt wird.
Auf gut 100 Seiten werden anschließend die diversen Machtstrukturen der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft im Generalkommissariat vorgestellt. Dieser zweite Teil des Buches kommt dem Charakter eines Handbuchs recht nahe. Leider wurde versäumt, ein Personenregister beizufügen, das für die Orientierung im hier behandelten Personenkreis höchst willkommen gewesen wäre. Zudem hätte man sich überlegen können, die zahlreichen Kurzbiografien der Protagonisten aus dem Fließtext herauszulösen und einen umfangreichen informativen Anhang aus ihnen zu formen. Ohne Register sind diese meist auch die Nachkriegsschicksale erfassenden, höchst wertvollen Informationen leider nicht auffindbar. Diagramme der Organisationsstrukturen mit den einzelnen Funktionsträgern hätten ein weiteres wichtiges Hilfsmittel sein können.
Überraschend erfolgt eine Einführung in die methodischen Ansätze, die Jüngerkes für seine Studie gewählt hat - unter anderem Niklas Luhmanns Systemtheorie -, erst zu Beginn des dritten Teils. Auf gut 200 Seiten folgt sodann eine Reihe von Fallbeispielen, die mit Hilfe der Begrifflichkeit der gewählten theoretischen Konzepte analysiert werden. Tatsächlich sind diese Abschnitte für das Funktionieren der Ostlandverwaltung sehr erhellend. Hierarchisierte bürokratische Kommunikation, bei der der Dienstweg oft Tage, wenn nicht Wochen dauern konnte, schuf eine selbstreferenzielle Grundlage dafür, auf eine zunehmend irritierende Umwelt - den Kriegsverlauf und die Ansprüche der anderen Machtstrukturen - zu reagieren. Leider finden sich diese Passagen in die detaillierte Deskription eingebunden, sodass sie für den Leser, der nicht an den Ereignis- und Diskussionsverläufen innerhalb der Verwaltung interessiert ist, unauffindbar bleiben. Letztere wiederum machen aber den eigentlichen Wert des Buches aus, denn Jüngerkes rekonstruiert seine Fallbeispiele minutiös; er behandelt "Rangfragen und Disziplinarprobleme", den Streit um die Stellung Rigas in der Verwaltungshierarchie, die Kommunikation von Reformen bis in die Zeit der Agonie hinein, die Frage der Erwartungen an einen NS-Funktionär, die Übergriffe von Wehrmacht und SS auf die Zivilverwaltung, das Verhältnis zwischen dem Rigaer Reichskommissar und dem Generalkommissar in Estland, die Verwicklung der Zivilverwaltung in den Holocaust und schließlich den Zusammenbruch seit Herbst 1944.
All das ist nicht frei von Redundanzen, schon weil wir immer wieder denselben Männern begegnen, deren persönlichen Sympathien bzw. Antipathien und die sich daran anschließenden Klientelstrukturen zum Teil überkreuz mit den jeweiligen formalen Hierarchien verliefen. In diesem Netzwerk waren Kategorien von Befehl und Gehorsam tatsächlich nicht ausreichend, um das "Wie" des Funktionierens zu erklären. Ostminister Rosenberg war trotz seiner nominellen Autorität nicht in der Lage, sich bei seinen Reichskommissaren durchzusetzen, und der Generalkommissar für Lettland Otto-Heinrich Drechsler konnte nie den niedriger gestellten Gebietskommissar Hugo Wittrock disziplinieren, der zugleich Oberbürgermeister von Riga (und ein guter Freund Rosenbergs) war (215). Allen war schließlich gemeinsam, im Konfliktfall allerhöchste Unterstützung bei Adolf Hitler zu suchen. Persönliche Führungsqualitäten, aber auch die meist beibehaltenen Funktionen im Reich - Reichskommissar Hinrich Lohse blieb Gauleiter von Schleswig-Holstein, was ihn oft von Riga fernhielt, aber ihm das Recht bewahrte, bei Hitler persönlich vorstellig zu werden - taten das ihre, um formale Hierarchien zugunsten eifrig behaupteter persönlicher Machtbereiche auszuhebeln.
Wohl auch aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse des Verfassers bleibt die lettische Seite dieser Besatzungsherrschaft leider unterbelichtet. Zwar wird immer wieder der Zielkonflikt dargelegt, den die unterschiedlichen deutschen Instanzen über die Zukunft von Land und Leuten ausfochten - Unterjochung? Germanisierung? Autonomie? -, doch bleibt die einheimische Perspektive hinter dem Schleier der deutschen Akten verborgen. Dass die Letten mit zunehmender Besatzungsdauer Vergleiche mit der sowjetischen Zeit 1940/41 zogen (493), macht nur das Dilemma der deutschen Zivilverwaltung deutlich, im Krieg auf ihre Kollaboration angewiesen zu sein, ohne ihnen etwas bieten zu können. So wurde der Autoritätsverlust der nationalsozialistischen Instanzen schließlich nur noch größer.
Nach der Lektüre dieser Studie bleibt der Eindruck eines gewollten Nebeneinanders von Hierarchien, die jeweils komplementäre Zielvorstellungen auf derselben ideologischen Grundlage verfolgten. Sehr deutlich kommt heraus, wie die von der Zivilverwaltung bevorzugte, aus ihrer Perspektive zweifellos "rationale" Strategie, Juden durch Arbeit zu vernichten, vom Standpunkt von SD und SS aus fast schon in die Nähe von "Judenfreundschaft" geriet (433). Der Judenmord aber verschärfte die Lage auf dem kriegswichtigen Arbeitsmarkt in Lettland dramatisch, wie der Verfasser aus Sicht der Zivilverwaltung kommentiert (468), und nahm ihr ein weiteres Stück Autorität.
Zwar ist all das hier Ermittelte in seiner Grundaussage - erbitterte Instanzenkonkurrenz und persönliche Konflikte verhinderten "Effektivität", auch die Verwaltung machte den Judenmord möglich - nicht neu, doch wurde es bislang noch nicht am Beispiel Lettlands durchdekliniert. Ob tatsächlich "mehr Zeit und ein günstigerer Verlauf des Krieges etliche der strukturellen Belastungen der Zivilverwaltung" hätten verschwinden lassen (211), mag dahingestellt bleiben; man wehrt sich auch irgendwie dagegen, mit Rosenberg oder Lohse Mitleid zu empfinden ob dieser "strukturellen Belastungen". Sicher ist nur, dass dieser Studie gerade wegen ihrer Verdienste mehr Zeit bei der Drucklegung gut getan hätte.
Karsten Brüggemann