Kateřina Bláhová: České dějepisectví v dialogu s Evropou (1890-1914), Praha: Nakladatelství Lidové Noviny 2009, 192 S., ISBN 978-80-200-1723-9, CZK 220,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die tschechische Literaturwissenschaftlerin Kateřina Bláhová behandelt in ihrer interdisziplinär angelegten Dissertation die Modernisierung und Emanzipation der tschechischen Geschichtswissenschaft und Literaturgeschichte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Diese sei - so die zentrale These der Autorin - nur durch eine kontinuierliche Internationalisierung (Europäisierung) der tschechischen Wissenschaft möglich gewesen. Der Kontakt und die Konkurrenz mit der (west)europäischen Wissenschaft hätten zu einem Import europäischer Wissenschaftsstandards geführt, die tschechische Historiografie von Utilitarismus und Nationalismus befreit und so schließlich in die europäische Geschichtswissenschaft integriert (159). Der besondere Erkenntniswert der Studie für die Erforschung der tschechischen Wissenschaftsgeschichte liegt vor allem in ihrer transnationalen Perspektive. Bláhová gelingt es, die Entwicklung der tschechischen Geschichtswissenschaft in den europäischen Kontext einzubetten, indem sie die internationale Vernetzung der Wissenschaftler sowie den daraus resultierenden grenzüberschreitenden Wissens- und Ideentransfer herausarbeitet.
In jedem der vier thematisch in sich abgeschlossenen Kapitel behandelt die Autorin einen bestimmten Kommunikationskanal zwischen der tschechischen und der ausländischen Wissenschaft. Die ersten beiden, die Entwicklung der Geschichtswissenschaft betreffenden Kapitel behandeln erst die Rezensionen ausländischer Werke in tschechischen Fachzeitschriften und dann die Auslandsaufenthalte tschechischer Forscher in Europa. In den letzten beiden eher literaturwissenschaftlich ausgerichteten Kapiteln werden einerseits die Übersetzung und Rezeption fremdsprachlicher wissenschaftlicher Arbeiten in Böhmen, andererseits die Herausbildung der tschechischen Literaturgeschichte als eigene Disziplin untersucht.
Das erste Kapitel ist der Institutionalisierung und Professionalisierung der tschechischen Geschichtswissenschaft seit den 1870er Jahren gewidmet. Als wichtige Zäsur markiert Bláhová die Teilung der Karlsuniversität 1882 und die Gründung eines eigenen tschechischen historischen Seminars durch Jaroslav Goll und Antonín Rezek. Diese Entwicklungen ließen nämlich die Notwendigkeit, sich in nationalistisch-polemischen Debatten gegenüber den deutschen Kollegen behaupten zu müssen, obsolet werden und machten den Weg frei für eine kritische Neubewertung der eigenen Geschichte (10 f.), die sich in den heftigen Kontroversen um die Authentizität der Grünberger Handschrift sowie in Debatten über das Niveau der tschechischen Geschichtsschreibung und den Sinn der tschechischen Geschichte äußerten. Von besonderer Bedeutung war der seit 1895 herausgegebene Český časopis historický, der in Bezug auf Methodik und Quellenkritik neue Maßstäbe setzte und sich im Wettbewerb mit dem traditionellen Časopis musea Království českého durchzusetzen vermochte. Bláhová unterzieht die Rezensionsrubrik beider Fachzeitschriften einer quantitativen Analyse und kommt zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Rezensionen ausländischer (vor allem deutscher, aber auch polnischer, französischer und russischer) Arbeiten kontinuierlich anstieg. Die Autorin sieht darin ein Indiz für die zunehmende Aufgeschlossenheit tschechischer Wissenschaftler gegenüber europäischen Forschungstendenzen. Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, welche Aussagekraft der quantitative Anstieg ausländischer Rezensionen insbesondere für die Bewertung der Wirkungskraft internationaler Ideentransfers tatsächlich hatte. Eine zusätzliche inhaltliche Analyse wäre erforderlich, um den Zusammenhang zwischen der zunehmenden Rezensionstätigkeit und der von der Autorin nahe gelegten wissenschaftlichen Qualitätsverbesserung besser beurteilen zu können.
Als weiteres Feld tschechisch-europäischer Kontakte untersucht Bláhová die Auslandsaufenthalte der tschechischen Geschichtswissenschaftler. Forschungsreisen und Studienaufenthalte im europäischen Ausland waren vor 1882 relativ selten und wurden erst durch das Engagement und die finanzielle Unterstützung von Goll und Rezek populär; ab 1900 gehörten sie schließlich zur gängigen Praxis unter den meisten jungen tschechischen Historikern. Bláhová dient vor allem die Korrespondenz zwischen Professoren und Schülern als Quelle zur prosopografischen Rekonstruktion der internationalen Erfahrungen und wissenschaftlichen Kontakte. Neben Aufenthalten am Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien erwiesen sich insbesondere Reisen ins Deutsche Reich (Josef Pekař) und nach Paris (Ladislav Hoffman), teilweise aber auch nach Russland und Polen (Čeněk Zíbrt, Jaroslav Bidlo) als fruchtbar für die weitere wissenschaftliche Laufbahn. Die jungen Forscher kamen hier in Kontakt mit neuen historiografischen Trends wie der Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturgeschichte und nahmen teil an zeitgenössischen Kontroversen wie zum Beispiel dem Methodenstreit in der deutschen Historiografie.
Übersetzungen fremdsprachlicher Werke in die tschechische Sprache waren im 19. Jahrhundert zunächst nur in der Belletristik, jedoch kaum in der Wissenschaft verbreitet. Erst in den 1890er Jahren sorgten neue Methoden für einen Übersetzungsboom, der sich auch auf die Fachliteratur auswirkte. Während Übersetzungen aus dem Deutschen aufgrund der Bilingualität der meisten tschechischen Wissenschaftler nur sehr selten vorgenommen wurden, gewannen Übersetzungen aus dem Französischen an Bedeutung. Die französische Wissenschaft war laut Bláhová für die Tschechen möglicherweise sogar einflussreicher als die deutsche (88). Die Autorin wählt im dritten Kapitel als Fallbeispiel das Werk des französischen Gelehrten Hippolyte Taine, um anhand seiner Rezeptionsgeschichte den Ideenimport aus dem Westen nachzuverfolgen. Ihr gelingt es zu zeigen, welchem Wandel Taines positivistisches Gedankengut ab den 1860er Jahren in der tschechischen Wissenschaft unterlag, bis es schließlich um die Jahrhundertwende seinen festen Platz in der tschechischen Literaturwissenschaft gefunden hatte. Auch wenn die Bedeutung von Taine für die tschechische Literaturgeschichte von Bláhová zweifellos herausgestellt wird, ist dieses Ergebnis jedoch in Bezug auf die übergeordnete Fragestellung, also für die Einschätzung der Transferwirkung von Übersetzungen im Allgemeinen, nicht repräsentativ.
Im letzten Kapitel widmet sich Bláhová den Bestrebungen der tschechischen Wissenschaftler Jaroslav Vlček und Jan Jakubec, die tschechische Literaturgeschichte als wissenschaftliche Disziplin nach europäischem Muster zu etablieren. Die Autorin beschreibt ausführlich, wie die allmähliche Emanzipierung der Literaturgeschichte von den Mutterdisziplinen Philologie und Geschichtswissenschaft bis zur Jahrhundertwende durch die Schärfung eines eigenen Profils, die Ausarbeitung einer eigenen Methodologie und die Verfassung erster Synthesen erfolgte. Sie kommt schließlich zu dem Schluss, dass sich dieser Prozess wesentlich mühsamer gestaltete als bei der Historiker-Schule von Jaroslav Goll.
Die thematische Strukturierung und chronologische Gliederung der Arbeit ist stringent; die vielen kleinen Unterkapitel, die meist nur 1-2 Seiten, manchmal sogar nur einen Absatz lang sind, hemmen jedoch etwas den Lesefluss und halten inhaltlich nicht immer das, was sie im Titel versprechen. Hilfreich wären deutlich hervorgehobene Zwischenfazits nach jedem Kapitel gewesen. Auch die Wiederholung von Zitaten - vergleiche Goll (12, 23) - hätte vermieden werden können. Nicht ganz nachvollziehbar ist der veranschlagte Zeitrahmen (1890-1914). Während die Autorin mit ihrer Analyse teilweise weit vor dem Jahr 1890 ansetzt, reichen ihre Ergebnisse meist nicht erheblich über das Jahr 1900 hinaus.
Die Studie steht im Kontext eines in den letzten zwei Jahrzehnten auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas gewachsenen Interesses an der Wissenschaftsgeschichte und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung geschichtswissenschaftlicher Infrastruktur und internationaler Vernetzung im Böhmen der Jahrhundertwende. Kritisch angemerkt sei hier nur, dass die Autorin den europäischen Ideenimport hauptsächlich als unidirektionalen Transfer von Westen nach Osten beschreibt und weniger einen verflechtungsgeschichtlichen Ansatz verfolgt, der Einflüsse von Seiten der östlichen Nachbarn sowie den tschechischen Beitrag im europäischen Wissenschaftsaustausch stärker berücksichtigt hätte.
Burkhard Wöller