Karin Sagner: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus, München: Hirmer 2009, 199 S., 110 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2161-2, EUR 69,00
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Die vorliegende Publikation ist die erste deutsche Monografie zu Caillebottes Œuvre. Sie gliedert sich in ein einführendes Kapitel und vier Hauptkapitel, die folgende Themenkreise in Caillebottes Werk untersuchen: das neue Stadtbild von Paris, das bürgerliche und großstädtische Leben, Interieurs, die Sport- und Freizeitkultur sowie das Landleben und die Gartenidylle. Der Katalogteil besteht aus durchweg farbigen Abbildungen in sehr guter Qualität sowie 50 Einzelanalysen, die durch Skizzen, Vorstudien, Konstruktionszeichnungen, Gemälde von Zeitgenossen und Fotografien ergänzt werden. Kurze Exkurse zu einzelnen Themen, wie etwa zur Fotografie oder zum Japonismus, sind farbig unterlegt und in die Texte eingestreut. Bedauerlich ist, dass ein Index fehlt. Leserunfreundlich ist ebenso, dass Zitate nicht separat von der Bibliografie in Fußnoten aufgeführt werden.
Nach einem biografischen Abriss hebt die Autorin bereits in der Einführung die Charakteristika einer neuen Darstellungsweise hervor, die sich vor allem in Caillebottes Stadtbildern von Paris manifestieren. Sagner versäumt es leider, an dieser Stelle auf die Forschungsarbeiten von Andrea Frey, "Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900", und Barbara Palmbach, "Paris und der Impressionismus", zu verweisen, die sich ausführlich mit Caillebottes Stadtbildern auseinandersetzen. [1] Auch durch die zeitgenössische Fotografie und die japanische Holzschnittkunst beeinflusst, wählt Caillebotte ungewöhnliche Standpunkte und neue Perspektiven auf die Stadt (12). Diese Beobachtung kann jedoch durchaus kritisch reflektiert werden: Nur eingeschränkt trifft beispielsweise die Annahme zu, dass die Fotografie als Vorbild für die impressionistische Malerei gedient habe, wie bei Frey nachzulesen ist, die sich auf die Ausführungen von Kirk Varnedoe bezieht. [2] Hinzu kommt, dass die Malerei bereits vor der Erfindung der Fotografie neue Darstellungsmittel entwickelte, die erst später als fotografisch interpretiert wurden. [3]
Das erste Kapitel befasst sich mit der sogenannten Haussmannisierung, die mit ihrem neuen städtischen Erscheinungsbild für die Maler Anlass war, ein verändertes Bild der Stadt Paris zu zeigen. Wie Sagner richtig anmerkt, war es vor allem Caillebotte, der allein durch seinen Wohnsitz im Nordwesten der Stadt "[...] direkt mit den Folgen dieser radikalen Umgestaltung konfrontiert war" (21). Er zeigt in seinen zwischen 1875 und 1880 entstandenen Parisbildern daher ein ganz neues Bild der Metropole, das eine Abkehr von den traditionellen Repräsentationsformen der Stadt, wie etwa der topografischen Ansicht oder der Vedute bedeutete. Hier vermisst der aufmerksame Leser eine Zitation der neueren Forschungsliteratur [4], die genau jene Auswirkung der Haussmannisierung auf den zeitgenössischen Betrachter und die Stadtbilder von Caillebotte untersucht. Der mehrdeutige Untertitel der vorliegenden Publikation "Neue Perspektiven des Impressionismus" ist daher kritisch zu betrachten: das dem Leser versprochene "Neue" ist zumindest in Bezug auf Caillebottes Stadtbilder bereits untersucht worden.
Die Autorin unterstreicht außerdem wiederholt die "neue Art der Stadtwahrnehmung" (25, 34). Sie "[...] musste zwangsläufig bruchstückhaft bleiben", da sich "[...] die Stadtlandschaft [...] letztendlich der Kontrolle und der Überschaubarkeit durch den Betrachter entzog" (26). Hier greift Sagner grundlegende Erkenntnisse aus Palmbachs Untersuchung auf, wie sie dort anhand dokumentarischer, theoretischer und literarischer Texte belegt werden. [5] Diese Schriften bilden überhaupt erst die Grundlage für die Annahme einer neuen Art der Stadtwahrnehmung seit der Haussmannisierung.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Arbeiterbild der Moderne, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Idealbilder der Figuren in der Kunst ablöste. Als Caillebottes erstes Arbeiterbild nennt Sagner die Parkettschleifer von 1875 (Kat. 15), die der Maler sachlich, ohne jegliches Pathos wiedergibt (68). In seinen Porträts hält Caillebotte vor allem Bildnisse von Gelehrten und Künstlern fest, meist als Momentaufnahmen, die die Porträtierten bei der Arbeit zeigen. Wie die Autorin zu Recht konstatiert, waren die Pont de l'Europe und die Gare Saint Lazare darüber hinaus ein für die Impressionisten wichtiges und inspirierendes Motiv. Welchen nachhaltigen Einfluss diese technischen Großbauten auf die Wahrnehmung des damaligen Betrachters hatten, wird von der Autorin zwar erläutert (71), jedoch weder durch Quellentexte gestützt, noch durch neuere Sekundärliteratur untermauert, wie etwa von Martin Burckhardt "Metamorphosen von Raum und Zeit". [6]
Im dritten Kapitel sind die bürgerlichen Interieurs Thema der Darstellung, denen sich Caillebotte verstärkt seit den 1880er Jahren zuwendet. Die Autorin bezeichnet sie als "Träger seelischer Befindlichkeiten" (99), die häufig die für das 19. Jahrhundert typische melancholische Stimmung und die von Chateaubriand bezeichnete Langeweile (l'ennui) verkörpern (103). Es sind statische und von Distanz geprägte Momentaufnahmen bürgerlicher Häuslichkeit, deren Kommunikationslosigkeit und Einsamkeit Sagner mit psychologischem Gespür aufdeckt. Neben Darstellungen von Freunden und Verwandten bei ihren alltäglichen Beschäftigungen gehören zu den Interieurbildern auch Caillebottes Aktdarstellungen.
Vor allem in seinen Männerakten zeigt er ein realistisches und modernes Männerbild, das auch in seinen Darstellungen von Ruderern, Kanufahrern und Schwimmern zum Ausdruck kommt, wie Sagner sie im vierten und letzten Kapitel vorstellt. Hier beschreibt sie die vielfältigen sportlichen Aktivitäten des Landlebens in Yerres und Petit Gennevilliers, die zahlreichen Bilder des Ruder- und Segelsports sowie Szenen des weitläufigen Gartens in Yerres und die späten Blumenbilder im Garten von Petit Gennevilliers. Spannend ist, wie Sagner hier den Gegenpol zum Pariser Großstadtleben herausarbeitet, das geradezu nach modernen Aktivitäten wie dem Bootssport auf der einen Seite und Entspannung in der Natur auf der anderen Seite verlangte.
Die Stärke des Buches ist in der kontextorientierten Herangehensweise einer thematischen Aufarbeitung der Werke Caillebottes zu sehen. Sagner würdigt damit Caillebottes Leistungen hinsichtlich unterschiedlichster Themenkreise und bietet gleichzeitig einen Überblick zu seinem Werk. Umso bedauerlicher ist jedoch das Versäumnis der Autorin, wichtige Erkenntnisse der modernen Stadtdarstellung im Kontext der neueren Impressionismus-Literatur zu situieren, deren Ergebnisse zur Darstellung von Paris für die aktuelle Impressionismus-Forschung unverzichtbar sind. Bereits bestehende Erkenntnisse zu Caillebottes Stadtbildern werden damit entweder ignoriert oder nicht angemessen zitiert. Aus der fehlenden Berücksichtigung der aktuellen kunsthistorischen Forschung resultiert, dass dieser Band wissenschaftlich betrachtet für den informierten Leser wenig Neues enthält und mit seinen zahlreichen Farbabbildungen eher als Überblickswerk für die breite Öffentlichkeit geeignet ist.
Anmerkungen:
[1] Andrea Frey: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900, Berlin 1999; Barbara Palmbach: Paris und der Impressionismus, Weimar 2001.
[2] Frey 1999, 90; Kirk J. Varnedoe: The Artifice of Candor: Impressionism and Photography Reconsidered, in: Art in America 68 (Januar 1980), 66-78.
[3] Vgl. Wolfgang Kemp: Das Neue Sehen. Problemgeschichtliches zur fotografischen Perspektive, in: ders.: Foto-Essays: Zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 1978, 51-101, hier: 60ff., 64f.
[4] Palmbach 2001, 201-237.
[5] Palmbach 2001, 31-91.
[6] Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit, Frankfurt 1994, 278f.
Barbara Palmbach