Markus Sehlmeyer: Geschichtsbilder für Pagane und Christen. Res Romanae in den spätantiken Breviarien (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 272), Berlin: De Gruyter 2009, VII + 375 S., ISBN 978-3-11-022008-7, EUR 109,95
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Dariusz Brodka: Die Geschichtsphilosophie in der spätantiken Historiographie. Studien zu Prokopios von Kaisareia, Agathias von Myrina und Theophylaktos Simokattes, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Scott McGill / Cristiana Sogno / Edward Watts (eds.): From the Tetrarchs to the Theodosians. Later Roman History and Culture, 284-450 CE, Cambridge: Cambridge University Press 2010
William Bowden / Luke Lavan / Carlos Machado (eds.): Recent Research on the Late Antique Countryside, Leiden / Boston: Brill 2004
Die Spätantike, insbesondere die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts, ist die große Zeit der historischen Breviarien. Der moderne Gattungsbegriff erfasst eine Gruppe von Texten, zu denen knappe, handbuchartige Abrisse der römischen Geschichte als Ganzer oder einzelner Epochen sowie so genannte Epitome gehören, die (bisweilen ergänzten) Auszüge größerer Geschichtswerke. Über ihren Wert als Quellen v.a. für die Zeitgeschichte des 4. Jahrhunderts hinaus haben diese Texte, die man lange als intellektuell anspruchslos abgetan und vernachlässigt hat, als Zeugnis für die Selektion und Deutung historischen Wissens hohe Relevanz für die derzeit intensiv geführte Forschungsdiskussion über Rolle und Medien der Memorialkultur in der Spätantike. [1]. In dieses aktuelle Forschungsinteresse ordnet sich das aus einer Rostocker Habilitationsschrift hervorgegangene Buch ein, das vor dem Hintergrund der genannten Debatte erstmals eine Zusammenschau (fast, s.u) aller einschlägigen Texte des späteren 4. Jahrhunderts vorlegt. Sehlmeyer geht es dabei nicht um eine handbuchartige Darstellung der einschlägigen Werke, sondern um eine systematische Analyse und soziokulturelle Kontextualisierung der in den Breviarien entwickelten "Geschichtsbilder" der römischen Vergangenheit.
Nach einem kurzen Einführungskapitel stellt Sehlmeyer zunächst dar, wie historisches Wissen in den Breviarien präsentiert und selektiert wird. Er geht dabei nach Epochen der römischen Geschichte vor und kontrastiert die Breviarien zur Schärfung ihrer Charakteristika mit den Chroniken, der 'großen Geschichtsschreibung' (Ammian, Historia Augusta) und christlichen Geschichtsentwürfen (v.a. Orosius). Dieses Verfahren liegt auch den historiographischen Untersuchungen der übrigen Kapitel zugrunde. Die Ergebnisse bestätigen, was man traditionell von dem Genre erwartet: Die römische Geschichte folgt einem kanonischen Gerüst von Taten großer Männer, später der 'guten' und der 'schlechten' Kaiser; im Fokus stehen vornehmlich militärische Leistungen und die Expansion des Imperiums; Reflexionen über Triebkräfte der Geschichte, das Kaisertum oder das Imperium fehlen.
Kapitel 3 fragt nach den Adressaten und der gesellschaftlichen Funktion der Breviarien. Es steht dabei ganz im Zeichen einer These, die Arnaldo Momigliano 1963 (nicht als erster) formulierte und seitdem die Forschung bestimmt [2]: Ziel und Anlass dieser Kompendien sei es gewesen, den bildungsfernen Aufsteigern des neuen spätrömischen Staates in Verwaltung, Militär und auf dem Thron Anschluss an die traditionelle Oberschichtenbildung zu ermöglichen. Um diese These zu untermauern, verweist Sehlmeyer in einem ersten Schritt auf Parallelen zwischen den Inhalten der Breviarien und den im Grammatik- und Rhetorikunterricht vermittelten Geschichtskenntnissen, wie sie den spätantiken Klassikerkommentaren und anderen Texten aus dem Umfeld der Schulausbildung zu entnehmen seien. Da Schulausbildung und Breviarien demnach "ähnliche historische Bildungsziele" verrieten, sieht sich Sehlmeyer zu dem Umkehrschluss berechtigt, die Breviarien seien "in der beruflichen Praxis nützlich für Wissen (gewesen), was man auf der Schule hätte erwerben können" oder sollen (121; vgl. ähnlich 128, 133, 212).
Den Bedarf an solchen Orientierungshilfen soll das nächste Unterkapitel zum "Bildungsstand der Spätantike" erweisen. Es argumentiert, dass den gebildeten Kaisern und Beamten des 4. Jahrhunderts viele gegenüberstanden, denen die Breviarien das historische Wissen vermittelten, das ihnen keine Schule gegeben hatte. Ein kursorischer Überblick weist dazu auf die üblichen Verdächtigen hin: Valentinian und Valens, deren annona- und Prätoriumspräfekt Maximin etc. Folgerichtig identifiziert das folgende Unterkapitel als Zielgruppe Eutrops die Bürokraten im Umfeld des Valens und die neuen Männer des Konstantinopolitaner Senats (170-172, 177). Für Aurelius Victor und den Filocalus-Kalender werden u.a. die "germanischen Heermeister" (165f., 168f.) als Adressaten ausgemacht.
Wiederholt verweist Sehlmeyer allerdings selbst (vgl. 140, 212) auf die heute zu Recht weitverbreitete Skepsis an dem hinter dieser These stehenden Bild eines generellen Bildungsverfalls in der Spätantike. Mehrmals betont er auch die Fragwürdigkeit der Urteile etwa eines Ammian über die Eliten des spätrömischen Staates. Sein eigener Überblick bleibt jedoch zu kursorisch, um daraus trotzdem ein tragfähiges Argument für seine These über die Zielsetzung der Breviarien zu gewinnen. Auch bei dem an sich interessanten Vergleich der Breviarien mit Schultexten scheint der daraus gezogene Umkehrschluss auf die Intentionen der Breviarien methodisch gewagt. [3] Damit soll keineswegs die These als solche in Abrede gestellt werden; der Erfolg Eutrops etwa mag für einen gesteigerten Bedarf nach historischem Orientierungswissen sprechen. Doch selbst wenn dies eine Ursache für die Konjunktur des Genres gewesen sein sollte, folgt daraus weder Sehlmeyers These über den soziologischen Ort des Phänomens noch dass dies überhaupt die primäre und alleinige Intention der Breviarien war (s.u.). Eine Diskussion alternativer Interpretationen wäre deswegen gerade hier wichtig gewesen. [4] Überzeugend ist dagegen ein abschließendes Unterkapitel, das eingehend die paränetische Funktion dieses Orientierungswissen vermittels der in den Breviarien enthaltenen historischen exempla analysiert.
Die Beziehung der in den Breviarien entworfenen Geschichtsbilder zu den spätantiken Transformationen römischer 'kultureller Identität' unter dem Einfluss des Christentums ist Gegenstand des 4. Kapitels. Die Darstellung konturiert dazu zunächst die Kontinuität traditioneller Geschichtsbilder, wie sie sich etwa in der Verwendung der überkommenen exempla in christlichem Schriftgut zeige. Dem stehen Diskontinuitäten gegenüber, etwa die Gliederung der Geschichte nach Christenverfolgungen und das sich entwickelnde Konzept der Heilsgeschichte. Dass sich diese Spannung der Geschichtsbilder auch jenseits des literarischen Diskurses abspielte, zeigt ein Exkurs zur Memorialtopographie der Stadt Rom. Die, von Ausnahmen abgesehen, weltanschauliche Neutralität der Breviarien hätte dagegen ein Geschichtsbild bereitgestellt, das für christliche und altgläubige Römer gleichermaßen akzeptabel war. Die Breviarien seien so Ausdruck und möglicherweise auch Faktor der Ausbildung einer neuen, christlich-römischen Identität gewesen. Die Untersuchung beschließt ein kurzer Ausblick auf die weitere Geschichte des Genres bis in die Frühe Neuzeit und ein Anhang mit einer knappen handbuchartigen Charakterisierung der behandelten Breviarien, Epitome und anderen historiographischen Texte.
Mit den in Kapitel 3 und 4 entfalteten Hauptthesen knüpft die Untersuchung an zwei in der Forschung seit langem diskutierte Interpretationen an. Beide sind, trotz der oben zu Kapitel 3 vorgebrachten Einwände, prinzipiell plausibel. Es stellt sich aber die Frage, ob sich die Funktion der in den Breviarien entworfenen Geschichtsbilder in der Bereitstellung von Orientierungswissen und dem Brückenschlag zwischen konkurrierenden Vergangenheitskonstruktionen erschöpft und ob dies, wie die übergreifende Behandlung nahelegt, für alle Breviarien gleichermaßen gilt. Sehlmeyer selbst weist en passant darauf hin, dass etwa der Prodigiorum liber des Iulius Obsequens besser als Programmschrift in den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit zu verstehen ist. Festus lieferte mit seinem Kompendium eine politische Propagandaschrift zur Rechtfertigung der Perserkriege des Valens; dasselbe haben Bird und Lenski mit guten Gründen auch für Eutrop argumentiert. [5] Ähnlich konkrete Intentionen ließen sich auch für andere Breviarien diskutieren (auch für solche, die Sehlmeyer nicht näher behandelt, etwa Vegetius' Epitome rei militaris - der ebenfalls mit historischen exempla arbeitet - oder die Origo Constantini). Solche Instrumentalisierungen von Geschichtsbildern weiterzuverfolgen wäre eine Spur gewesen, der zu folgen sich möglicherweise gelohnt hätte. Vielleicht hätte auch eine schärfere Unterscheidung zwischen den kulturellen Kontexten und Darstellungsabsichten der teilweise ja sehr verschiedenartigen Breviarien und Epitome noch weitere Facetten und Wirkungen dieses Genres aufgedeckt. Davon unbenommen bleibt aber das Verdienst des Buches, noch einmal nachdrücklich auf das Potenzial der Breviarienliteratur für die Debatte um die Erinnerungskulturen der Spätantike hingewiesen zu haben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt etwa S. Diefenbach: Römische Erinnerungsräume: Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr., Berlin 2007; R. Behrwald: Die Stadt als Museum? Die Wahrnehmung der Monumente Roms in der Spätantike, Berlin 2009, sowie demnächst die Beiträge in R. Behrwald / C. Witschel: Historische Erinnerung im städtischen Raum: Rom in der Spätantike, Stuttgart 2011.
[2] Pagan and Christian Historiography in the Fourth Century A.D., in: The Conflict between Paganism and Christianity in the Fourth Century, Oxford 1963, 79-99, hier 85f.
[3] Dies gilt auch für einzelne Argumentationsschritte, etwa wenn es vom Panegyricus des Pacatus heißt, dass dessen historische exempla zum größeren Teil "aus den spätantiken Breviarien hätten stammen können" (124).
[4] Ein Hinweis darauf auf Seite 172f.
[5] Eutropius: The Breviarium ab urbe condita, translated by H. W. Bird., Liverpool 1993, xiv-xxv; N. Lenski: Failure of Empire. Valens and the Roman state in the fourth century A.D., Berkeley 2002, 185-196. Sehlmeyer lehnt dies 173 mit der Begründung ab, dass Eutrop selbst davon nichts sage. Allerdings steht bei ihm auch nicht, dass seine Darstellung der negotia vel bellica vel civilia der historischen Nachhilfe für die Bürokraten und Militärs des Valens dienen solle.
Sebastian Schmidt-Hofner