Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen, Reinbek: Rowohlt Verlag 2010, 682 S., ISBN 978-3-498-03939-4, EUR 24,95
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Für Shoa, der Film, der 1985 erschienen ist und seinen Regisseur berühmt gemacht hat, bleibt am Ende dieser Memoiren kaum mehr Platz. Erst ganz am Schluss des Buches, auf den letzten rund hundert Seiten, ist davon die Rede. Einfach zu viel ist vorher schon geschehen im Leben von Claude Lanzmann, das es verdient, erzählt zu werden.
Geboren 1925 in Paris, kämpfte Lanzmann bereits als Fünfzehnjähriger - zum Teil an der Seite seines Vaters, zum Teil mit seinen Mitschülern, mit denen zusammen er eine kommunistische Widerstandsgruppe ins Leben gerufen hatte - gegen die deutschen Besatzer und die französischen Kollaborateure der Vichy-Regierung unter Marschall Pétain. Beim Schmuggeln von Waffen aufgegriffen, bietet sich für Lanzmanns Begleiter die Möglichkeit, einen französischen Milizionär zu erschießen, und so nicht nur die kostbare Ware, sondern auch das nackte Leben der beiden zu retten. Dieser jedoch erwies sich als "buchstäblich grün und blau vor Angst, gelähmt, unfähig etwas zu unternehmen", sprich: außer Stande, den tödlichen Schuss abzufeuern. Nur das Auftauchen von Lanzmanns Vater, der den Milizionär durch beherztes Handeln in die Flucht schlägt, rettete ihnen das Leben. Diesen "verbrecherischen Mangel an Mut, seine Unfähigkeit zur Tat" hat Lanzmann seinem nicht minder jugendlichen Mitstreiter nicht verziehen; nie wieder hat er ein Wort mit ihm gewechselt.
In seinen Erinnerungen jedoch kehrt Lanzmann wiederholt zu dieser Szene aus Jugendtagen zurück, die für ihn eine verachtenswerte Kombination aus Feigheit und verantwortungsloser Untätigkeit darstellt. Seine Bewunderung für alles Militärische, für Pflichterfüllung und Tapferkeit, wird Lanzmann sein ganzes Leben lang begleiten. Zahlreiche Seiten handeln von seinen Erfahrungen mit israelischen Soldaten und Offizieren, und ausführlich beschreibt er seine Erlebnisse, als sich ihm bei den Dreharbeiten zu Tsahal die Möglichkeit bot, ein paar Runden in einem Kampfjet der israelischen Streitkräfte mitzufliegen: "Es [gelang] mir, ohne Flugschein und Lehrzeit, die F-16 auf eigene Faust von einer Seite auf die andere Seite Rollen zu lassen und zur Zufriedenheit des stellvertretenden Befehlshabers eine vollständige Rolle zu fliegen." Beim ersten Versuch hingegen war ihm dieses Kunststück noch nicht geglückt, was ihm noch heute als ein "unverzeihliche[r] Fehler, Zeichen fehlender Entschlossenheit und Kühnheit" gilt.
Auch später engagierte sich Lanzmann im Widerstand, wenngleich nun nicht mehr mit der Waffe, sondern mit der Feder in der Hand. Zusammen mit Sartre und Simone de Beauvoir, seiner Lebensgefährtin über viele Jahre, reiste er in den Jahren des Algerienkrieges wiederholt nach Nordafrika, um vor Ort das algerische Unabhängigkeitsstreben zu unterstützen und in diversen linken Zeitschriften in Frankreich - allen voran in den Temps Moderne, deren Herausgeber Lanzmann noch heute ist - darüber zu berichten. Erst als Ahmed Ben Bella, ab 1962 erster Staatspräsident im unabhängigen Algerien, verkündete, man werde nun eine Armee mit hunderttausend Mann in Richtung Israel entsenden, um Palästina zu befreien, wandte sich Lanzmann enttäuscht von der algerischen Sache ab: "Das war für mich ein Schlusspunkt. Ich hatte geglaubt, man könnte gleichzeitig für die Unabhängigkeit Algeriens und die Existenz des Staates Israel sein. Ich hatte mich getäuscht."
Nach Israel war Lanzmann bereits als junger Journalist mehrfach gereist. Seine erste filmische Auseinandersetzung mit dem Land fand jedoch erst viele Jahre nach dem Krieg in Algerien statt. In Warum Israel, der 1973 erschien und seine Premiere beim Filmfestival in New York feierte, befasste er sich mit der jüdischen Identität. Doch geht Lanzmann in seinen Erinnerungen auf die Dreharbeiten zu Warum Israel nur ganz am Rande ein (das selbe gilt für seine Filme Tsahal und Sobibor, die ebenfalls so gut wie nicht erwähnt werden); entscheidend ist vielmehr, dass der Erfolg von Warum Israel die Voraussetzungen dafür schuf, dass Shoa entstehen konnte. Dabei kam die Idee, einen monumentalen Film über die Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges zu drehen, nicht von Lanzmann selbst, sondern wurde vom israelischen Außenministerium an ihn herangetragen. Das war im Frühjahr 1973; seine Premiere hatte das gut neunstündige Werk im Jahr 1985.
Die Beschreibung der zwölfjährigen Arbeit an Shoa ist zweifellos der spannendste Teil des Buches. Das weiß auch Lanzmann, der seine Erinnerungen darauf zulaufen und mit ihr enden lässt. Wiederholt stand das Projekt auf der Kippe, unter anderem als Israel nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges seine finanzielle Unterstützung drastisch reduzierte. Doch Lanzmann blieb beharrlich, auch wenn ihn dies mehrfach an den Rand des persönlichen Ruins führte. Mehr als ein Jahrzehnt reiste er um die Welt, um Opfer und Täter der Judenvernichtung ausfindig zu machen und zu interviewen. Dabei arbeitete er auch mit versteckten Kameras (was in den 1970er Jahren gar nicht so einfach war, da die Kameras noch recht groß waren) und war entsetzt vom neuerlichen Antisemitismus, auf den er bei seinen Dreharbeiten - insbesondere in Polen - stieß ("Ein Glück, dass es in Polen keine Juden mehr gibt, sonst gäbe es einen furchtbaren Antisemitismus!"). Hinzu kam, dass Lanzmann sich mehrfach mit seinem eigenen Team überwarf, da er - moralisch in der Tat fragwürdig - auch nicht davor zurückschreckte, Nazi-Verbrechern zum Teil hohe Geldsummen zu bezahlen, damit diese sich vor seiner Kamera äußerten.
Das Ergebnis dieses gewaltigen Lebenswerks lässt sich unmöglich in wenigen Zeilen zusammenfassen. Dieser Auffassung ist auch Lanzmann, der es in seinen Erinnerungen gar nicht erst versucht. Doch steht seine Arbeit auf einer Stufe mit der des vor wenigen Jahren verstorbenen Raul Hilberg, dessen umfassendes Hauptwerk Die Vernichtung der europäischen Juden in den USA 1961 veröffentlicht wurde - die erste deutsche Ausgabe erschien 1982 - und Lanzmann als eine maßgebliche Grundlage für seinen Film diente.
Florian Keisinger