Simon Burrows / Jonathan Conlin / Valerie Mainz et al. (eds.): The Chevalier d'Eon and his Worlds. Gender, Espionage and Politics in the Eighteenth Century, London: Continuum 2010, XIV + 256 S., ISBN 978-0-82642-278-1, GBP 65,00
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Der Chevalier d'Éon war eine außergewöhnliche Figur. 1728 in Tonnerre als Sohn eines Rechtsanwalts und Verwalters von Krondomänen geboren, studierte Charles-Geneviève-Louis-Auguste-André-Timothée d'Éon de Beaumont zunächst ebenfalls die Rechte, wurde 1748 Anwalt am Pariser Parlament und Zensor für Literatur und Geschichte. Seinen politischen Aufstieg verdankte d'Éon diplomatischen und militärischen Aufträgen. Im Rahmen des Intrigenspiels des "sécret du roi" wurde er zunächst 1756 als Gesandtschaftssekretär nach St. Petersburg beordert, von wo er 1760 mit dem Text des russisch-französischen Allianzvertrags nach Paris zurück kehrte. In den beiden folgenden Jahren diente er in der Armee, wo er verwundet und ausgezeichnet wurde.
So weit, so aufregend, aber so wenig skandalös. 1762 wurde d'Éon in der Doppelrolle als Gesandtschaftssekretär und Geheimagent nach London beordert, wo er sich im Zuge der Friedensverhandlungen nach dem Siebenjährigen Krieg als begnadeter Unterhändler erwies und von einem dankbaren König ausgezeichnet wurde. Der Auszeichnung folgte aber keine Rangerhöhung. Zwar wurde d'Éon in Abwesenheit des Botschafters Geschäftsträger, nach der Ernennung eines Nachfolgers aber wiederum bloßer Gesandtschaftssekretär, der damit betraut war, eine französische Invasion Englands zu planen.
1763 widersetzte sich der Chevalier seiner auf Druck des neuen Botschafters erfolgten Abberufung. Er publizierte einen Teil seiner diplomatischen Korrespondenz und drohte, auch die geheimen Invasionspläne öffentlich zu machen. Er prozessierte fleißig vor englischen Gerichten und beschuldigte den neuen französischen Botschafter des Mordversuchs; er habe versucht, ihn bei einem Essen zu vergiften. Und - hier beginnt der Skandal - er behauptete, eine Frau zu sein. Immerhin hatte die Taktik in der Summe einen partiellen Erfolg: d'Éon (den man nun in Frankreich guten Gewissens für bizarr, wenn nicht ganz verrückt, halten konnte) erhielt eine stattliche französische Pension. 1774 handelte Beaumarchais sogar ein Abkommen zwischen d'Éon und der französischen Krone aus, welches ihr 1777 sogar die Rückkehr nach Frankreich erlaubte, wenn auch 'nur' als Frau, die keine Männerkleider mehr tragen durfte, obgleich ihr das Tragen der Orden weiterhin gestattet blieb. Nach einer relativ ruhigen Phase des Exils in Tonnerre kehrte d'Éon 1785 nach England zurück. Da die Revolution ihre Pensionszahlungen beendete, hielt sich d'Éon zunächst mit Schauduellen, sodann mit Vorschüssen für eine Autobiographie über Wasser. Als sie 1810 starb, ergab eine medizinische Untersuchung eindeutig, dass es sich bei dem Chevalier zumindest anatomisch immer um einen Mann gehandelt hatte.
Das seltsame Leben des Chevalier d'Éon, dessen Nachlass in Leeds aufbewahrt wird, ist mehrfach in Biographien beschrieben worden, wobei mal die hohe Politik, mal die Frage nach Geschlechterrollen im 18. Jahrhundert mehr in den Vordergrund getreten ist. Der vorliegende Sammelband trägt zu beiden Themenkreisen etwas bei. Was die politische Geschichte betrifft, so beschränkt er sich allerdings auf die Jahre zwischen 1762 und 1785. Er lotet die Medienstrategien und das politische Umfeld des d'Éon-Skandals in England ebenso aus wie die Verhandlungen Beaumarchais' und das "Exil" in Tonnerre.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf Fragen der Geschlechterrollen und sexuellen Identitäten d'Éons, die auf der Grundlage verschiedener literarischer und bildlicher Darstellungen seines Lebens sowie unterschiedlicher literarischer und philosophischer Vorlagen diskutiert werden - obgleich einige Autoren anmerken, dass die spektakuläre Geschlechtsumwandlung (die d'Éon in Frankreich ja zurücknehmen wollte) eher eine Verzweiflungstaktik als der Ausdruck einer echten Selbstwahrnehmung zwischen den Geschlechtern gewesen sein könnte. Zu diesem Problem hätte vielleicht ein genauerer Blick auf die Biographie des Protagonisten vor 1762 auch etwas beitragen können. Das ändert freilich nichts daran, dass es sich um einen Band handelt, der ebenso vielseitig und interessant ist wie sein Protagonist.
Andreas Fahrmeir