Mischa Meier: Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, 443 S., ISBN 978-3-608-94377-1, EUR 27,90
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"Moderne Biographien" zielen darauf ab, "die wechselseitigen Abhängigkeiten, die Interdependenzen, die sich aus dem Wirken einzelner und ihren durch unterschiedliche Faktoren definierten Handlungsspielräume ergeben, herauszuarbeiten und zu analysieren" (13). Diesen methodischen Leitsatz formuliert der Tübinger Althistoriker Mischa Meier im ersten Kapitel ("Anastasios und seine Welt", 9-45) seiner Monographie über die Regierungszeit des oströmischen Kaisers Anastasios. Anastasios selbst genießt in der Forschung einen durchaus guten Ruf [1], Meiers Ziel ist es nun, "ein größeres Panorama einer Epochenschwelle aus der bislang vernachlässigten Perspektive des römischen Ostens" vorzulegen (7).
Die Eckpunkte der Handlungsspielräume eines oströmischen Kaisers um 500 steckt Meier im Kapitel II "Ringen um Stabilität: Das Römische Reich im 5. Jahrhundert nach Chr." (15-52) ab. Einen wichtigen Verstehenshintergrund für die Zeit des Anastasios bilden Meier zufolge die christologischen Auseinandersetzungen sowie die verbreiteten eschatologischen Naherwartungen.
Zu Beginn seiner Herrschaft musste Anastasios sich im Bürgerkrieg gegen die Isaurier und im Konflikt mit Papst Gelasius I. bewähren (Kapitel III "Der ungeliebte Kaiser (491-498)", 53-117). Im Isaurierkrieg zeigte sich das politische Geschick des Kaisers: Indem er die keinesfalls homogene Gruppe der Isaurier "zu einem einheitlichen Feind" (79) erklärte, gelang es ihm, antiisaurische Kräfte zu bündeln. In der Bewertung der sogenannten "Zweigewaltenlehre" des Gelasius folgt Meier der Interpretation Ullmanns [2]: "streng genommen spricht er [Gelasius] [...] dem weltlichen Herrscher jegliche Autonomie ab" (112).
Der Sieg über die Isaurier ebnete den Weg für "Reformen im Inneren, Absicherung nach außen: Die Konsolidierung des Oströmischen Reiches (498-512)" (Kap. IV, 118-173). Die Einführung der vindices sieht Meier im Gegensatz zur eher negativen Einschätzung der Forschung als nur punktuelle und durchaus effektive finanzpolitische Maßnahme zur Kontrolle und Stabilisierung städtischer Haushalte (133). [3] Den Bau der Langen Mauer interpretiert Meier als Teil eines umfassenden Sicherungskonzepts, in dem "der ehemalige Westteil des Imperium Romanum keine tragende Rolle mehr spielte" (148).
In Kapitel V "Bewährungsprobe: Krieg gegen die Perser (502-506)" (174-222) konzentriert Meier sich nicht nur auf Rom und Persien [4], sondern zeigt, wie über Bündnisse die arabischen Stämme in den Konflikt einbezogen wurden (190-194). Die "brisante Lage" in den durch den Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogenen Ostprovinzen "zwang den Kaiser nachgerade dazu, sich demonstrativ auf die Miaphysiten zuzubewegen" (216), um den Osten zusammenzuhalten. Dafür riskierte Anastasios einen historischen Tiefpunkt in den Beziehungen zum Westen und sah zudem wohl nicht klar genug, dass er den alten religiösen Gegensätzen im Osten nur neue Nahrung gab. Meier schreibt dem Perserkrieg eine "Schlüsselstellung" für Anastasios' Religionspolitik zu und sieht ihn als Möglichkeit, diese Politik ohne Rückgriff auf "psychologisierende Interpretationsansätze" zu verstehen (216).
"Ein Blick nach Westen (504-514)" (Kap. VI, 223-249) gilt den Beziehungen zum Ostgotenkönig Theoderich und dem laurentinianischen Schisma in Rom. Auf Theoderichs Annexion der Provinz Pannonia II reagierte Anastasios mit einer "diplomatischen Initiative" (226) und einem Flottenvorstoß, der zeige, dass Italien für Anastasios "jenseits der Sphäre, die es zu schützen galt" (238) lag. Dass Theoderich das bereits seit 498 bestehende laurentianische Schisma 506 formell beilegte, ist Meier zufolge nicht nur durch die Zuspitzung der Spannungen mit Konstantinopel begründet, sondern zeige vor allem, dass Anastasios' Kurswechsel hin zu einer zunehmend miaphysitisch orientierten Religionspolitik zu diesem Zeitpunkt erkennbar vollzogen war (242f.).
Dieser neue Kurs in Anastasios' Religionspolitik steht im Zentrum des siebten Kapitels ("Die Eskalation der religiösen Konflikte (506-512)", 250-288). Anastasios entglitt "das Heft des Handelns, denn die Radikalisierung der Fronten erzeugte Eigendynamiken, die zu kontrollieren immer schwieriger wurde" (251). Zum Symbol der Auseinandersetzungen wurde der Streit um einen als theopaschitisch verstandenen Zusatz zum Trisagion (261f.). Mit der Durchsetzung dieses Zusatzes provozierte Anastasios den Ausbruch des großen Staurotheis-Aufstands 512. [5] Diese größte Bedrohung seiner Herrschaft, brachte der Kaiser mit einer "demonstrativen Demutsgeste" (288) zum kollabieren, ohne von seiner religionspolitischen Position signifikant abzurücken.
"Die letzten Jahre (512 - 518)" des Anastasios (Kap. VIII, 289-324) sind durch den Aufstand des comes foederatorum Vitalian geprägt, für den laut Meier religionspolitische Motive als ernstzunehmende Antriebskraft anzusehen sind (bes. 309).
Im "Epilog" (Kap. IX, 325-330) entwickelt Meier ein dreiphasiges Modell, um den Übergang von Ostrom zu Byzanz zu beschreiben. Anastasios verortet er in der ersten Phase, die er als "Krise des Kaisertums" im späteren 5. Jahrhundert beschreibt. Anastasios kommt aufgrund seiner erfolgreichen Konsolidierungspolitik eine wesentliche Rolle für die Sicherung des Fortbestands des spätantiken römischen Imperiums zu. Entscheidend war Anastasios' "gesunder Pragmatismus", der sich in der konsequenten Konzentration auf den Osten des Imperium Romanum zeigte. Zugleich besaß Anastasios "Mut, auch unpopuläre Entscheidungen konsequent umzusetzen und mitunter hart durchzugreifen" (326).
Den zu Beginn seines Buches formulierten Anspruch an eine moderne Biographie setzt Meier um. Er leuchtet die Handlungsspielräume seiner Protagonisten konsequent aus. Zentrale Motive, wie Endzeiterwartungen oder religiöse Konflikte, fügen die einzelnen Schauplätze zu einem schlüssigen Ganzen zusammen. Darüber hinaus greift Meier wichtige Themen seiner eigenen Forschungen auf und entwickelt sie weiter. [6] Besonders hervorzuheben ist, dass Meier ausführlich wichtige Quellentexte zitiert und die Möglichkeiten der Quelleninterpretation vorführt. Auch wenn die Orientierung im als Endnoten gestalteten Anmerkungsapparat - der sich als sehr ergiebig erweist - leider durch fehlende "running titles" unnötig erschwert wird, ist das Buch durch den umfangreichen Anhang mit Herrscher- und Bischofslisten, Zeittafel sowie seinen detaillierten Registern sehr gut zugänglich. Meiers Anastasiosbuch ist damit ein in jeder Hinsicht lesenswertes Panorama einer Epochenschwelle.
Anmerkungen:
[1] Stellvertretend sei hier verwiesen auf Mitchell, Stephen: A History oft the Later Roman Empire, AD 284-641. The Transformation of the Ancient World, Oxford u.a. 2007 (Blackwell History of the Ancient World), 120-124 und Lee, A.D.: The Eastern Empire: Theodosius to Anastasius, in: Cameron, Averil / Ward-Perkins, Bryan / Whitby, Michael (eds.): The Cambridge Ancient History XIV: Late Antiquity. Empire and successors A.D. 425-600, Cambridge 2000, 52-55. Trotz dessen, dass Anastasios zweifelsohne an einer wichtigen Epochenschnittstelle steht, erschienen bisher nur zwei eigenständige Monographien zu diesem Kaiser: Capizzi, Carmelo: L'imperatore Anastasio I. (491-518). Studio sulla sua vita, la sua opera e la sua personalita, Rom 1969 und Haarer, Fiona K.: Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World, Cambridge 2006 (ARCA. Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 46), s. zu dieser die kritische Rezension von Brodka, Dariusz, in: Byzantinische Zeitschrift 100, 2007, 856-860.
[2] Ullmann, Walter: Gelasius I. (492-496). Das Papsttum an der Wende der Spätantike zum Mittelalter, Stuttgart 1981.
[3] Negative Bewertung der vindices beispielsweise: Sarris, Peter: Economy and Society in the Age of Justinian, Cambridge 2006, 158f.
[4] Amida, das Zentrum der römischen Provinz Mesopotamia und wichtigster Kriegsschauplatz, ist in der Karte S. 175 allerdings in der Provinz Persarmenia eingezeichnet und damit zu weit nach Nordwesten "verrutscht".
[5] Meier weist auf die notwendige Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten, "großen" Staurotheis-Aufstand hin. Der Abschnitt im Buch basiert auf Meiers ausführlicher Behandlung des Staurotheis-Aufstands: Meier, Mischa, Staurotheisdi'hemas - Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512, in: Millennium 4 (2007), 157-237.
[6] Zu nennen sind z.B. die eschatologischen Naherwartungen, die schon in Meiers Habilitationsschrift eine zentrale Rolle spielten: Meier, Mischa, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n.Chr., Göttingen 2003 [2. Auflage 2004], (Hypomnemata 147), bes. 11-22. Die sich zunehmend schwieriger gestaltende Kommunikation zwischen Ost und West thematisiert Meier im Kontext von Anastasios' Korrespondenz mit Papst Gelasius (108, 113) sowie der Ehrenbezeugungen für den Merowingerkönig Chlodwig (232f.); s. hierzu den methodisch ausgesprochen reflektierten Beitrag: Meier, Mischa, Eschatologie und Kommunikation im 6. Jahrhundert n.Chr. - oder: Wie Osten und Westen beständig aneinander vorbei reden, in: Brandes, Wolfram / Schmieder, Felicitas (Hgg.): Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin / New York 2008, (Millennium-Studien 16), 41-73.
Daniel Syrbe