Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hgg.): Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit (= Irseer Schriften. Studien zur schwäbischen Kulturgeschichte. N.F.; Bd. 6), Konstanz: UVK 2010, 688 S., ISBN 978-3-86764-203-3, EUR 79,00
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"Licht ins Dunkel historischer Praktiken des Handels" (16) wollen die Herausgeber Mark Häberlein und Christoph Jeggle bringen und präsentieren hierfür das Ergebnis zweier Tagungen des Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Jahre 2004 und 2005, die durch weitere Aufsätze verwandter Kontexte ergänzt wurden. Den Untersuchungen liegen die Ansätze der neueren Handelsgeschichte zugrunde. Neu entstehende oder sich verändernde Strukturen werden folglich als Ergebnis des Handelns der Akteure begriffen und das sich verändernde Handeln wird nicht auf die veränderten Strukturen zurückgeführt. Allerdings wollen die Beiträger des Sammelbandes diesen auf Pierre Bourdieus "Theorie der Praxis"[1] zurückgehenden Paradigmenwechsel nicht allzu prominent diskutieren.
In Fallstudien befassen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes mit konkreten Erscheinungsformen sozialer Interaktionen beim Güter- und Zahlungsverkehr, der Kreditgewährung und der Informationsübermittlung. Die Verfasserinnen und Verfasser wählen für ihre Darstellung der Handelspraktiken in Spätmittelalter und Früher Neuzeit unterschiedliche Perspektiven, so dass sich ebenso Untersuchungen zu bestimmten Handelssparten, wie dem schlesischen Leinenhandel oder dem niederländischen Russlandhandel, finden wie zu einzelnen Akteuren, wie dem Basler Kaufmann Ulrich Meltinger, einzelnen deutschen Kaufleuten im Handel zwischen Sevilla und Antwerpen, Florentiner Bankiers oder Amsterdamer Finanzmaklern. Andere wiederum rücken die Neuerungen in der Medienlandschaft zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung oder nutzen die Themengebiete Regional- oder Kleinhandel, um sich mit der Teilhabe von Frauen oder der Rolle des Handels ethnischer oder religiöser Minderheiten zu beschäftigen.
Zum Teil quer zu dieser Perspektivenwahl gliedert sich der Band in die Kapitel "Strukturen des Fernhandels", "Kaufmännische Praktiken im späten Mittelalter", "Informationen und mediale Wandlungsprozesse", "Verwandtschaftsbeziehungen und soziale Netzwerke", "Formen des Regional- und Einzelhandels" sowie "Minderheiten in der frühneuzeitlichen Wirtschaft". Daraus ergibt sich eine Art Matrix, die einzelne Aspekte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handels eben aus den unterschiedlichen Gesichtswinkeln beleuchtet und so fast zwangsläufig zu einer Durchdringung von oftmals nur getrennt untersuchten Forschungsfeldern führt. Allerdings ist - aufgrund ihrer Vielschichtigkeit beinahe zwangsläufig - nicht immer eindeutig ersichtlich, warum bestimmte Beiträge in einem bestimmten Kapitel und nicht in einem anderen landeten. Doch meist werden Sammelbände ohnehin weniger wegen ihrer durchkomponierten Struktur gelesen als aufgrund der Qualität der einzelnen Beiträge.
Wie bei den meisten Sammelbänden, die vorwiegend Tagungsergebnisse präsentieren, ist die Güte der Beiträge unterschiedlich, doch die Einzelkritik würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Die breit angelegte Fragestellung und die häufigen Perspektivwechsel des Bandes veranlassen die Autoren "ihren" Ansatz und ihr Fachgebiet bisweilen profund, bisweilen ein wenig langatmig einzuleiten. Das kann als Stärke des Bandes interpretiert werden, wenn der Leser die Aufsätze nutzt, um sich einen Überblick über die Fülle und Vielfalt der Themen zu verschaffen, oder darüber, welche Pfade die neuere Handelsgeschichte verfolgt. Für Spezialisten in einzelnen Themenbereichen verschwindet jedoch gelegentlich das Ergebnis der Einzeluntersuchung hinter ausführlichen Erklärungen zu den allgemeinen historischen Umständen.
So stehen, um hier nur zwei Beispiele zu nennen, in Clé Lesgers Untersuchung zum Buchdruck und Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum eher die allgemeinen Kennzeichen kaufmännischer Nachrichtenermittlung und -übertragung im Zentrum als deren Besonderheiten in Amsterdam, auch wenn sie natürlich am Amsterdamer Beispiel beleuchtet werden. Marjolein t'Hart zeigt zwar die Zusammenhänge zwischen den Staatsschulden der Vereinigten Provinzen und den Direktorennetzwerken der niederländischen Ostindienkompanie, doch ist das Ergebnis, dass es hier zu engmaschigen Netzwerken kam, für die Staatshaushalte der aufstrebenden Seemächte der Frühen Neuzeit wenig überraschend. Auch hier hätte sich zumindest die Rezensentin eine mehr als nur angedeutete Thematisierung der dahinter liegenden politischen Interessen gewünscht.
Doch kann ein Sammelband mit solch breiter Themenstellung sicherlich nicht alle (Spezial)Wünsche erfüllen. So bleibt ein insgesamt positiver Eindruck, denn zahlreiche Denkanstöße werden gegeben, Perspektiven aufgezeigt und auch ungewöhnliche Fragestellungen diskutiert. Besonders verdienstvoll ist das bei vielen Sammelbänden vernachlässigte Register, das eine gezielte Suche nach Personen, geographischen Namen und Produkten erlaubt. Dies erhöht die Nutzerfreundlichkeit des Bandes, sodass er nicht nur einen Überblick über die Themenvielfalt der neueren Handelsgeschichte gibt, sondern zugleich zur Quelle leicht find- und nutzbarer Einzelinformationen wird.
Anmerkung:
[1] Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main 1976.
Andrea Weindl