Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2010, 683 S., 49 Abb., ISBN 978-3-406-60585-7, EUR 29,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Kerstin Schoor: Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945, Göttingen: Wallstein 2010
Fergus Campbell: The Irish Establishment 1879-1914, Oxford: Oxford University Press 2009
Richard English: Irish Freedom. A History of Nationalism in Ireland, London: Macmillan 2006
Als Sebastian Haffner 1938 nach Großbritannien emigrierte, war es sein publizistisches Anliegen, die britische Öffentlichkeit über das nationalsozialistische Deutschland aufzuklären. Zugleich wollte er einer pauschalen Verurteilung des deutschen Volkes entgegen wirken. Das war eine schwierige Aufgabe, die der gerade einmal 31-jährige Haffner - der zu diesem Zeitpunkt noch den Namen trug, den seine Eltern ihm gegeben hatten: Raimund Pretzel - jedoch mit Bravour meisterte. Eindrucksvolles Zeugnis dafür ist die 1940 erschienene Streit- und Aufklärungsschrift "Germany: Jekyll and Hyde". Darin präsentierte Haffner Deutschland als das "erste von den Nationalsozialisten eroberte Territorium" und versuchte, die Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit auf die - wenngleich gespaltene - deutsche Opposition zu lenken; nicht alle Deutschen, so die Botschaft an die Briten, seien Parteigänger Hitlers. Vor gut zehn Jahren hat Hans Mommsen diesen frühen Essay aus der Feder Haffners einer eingehenden Würdigung unterzogen; der daraus entstandene Text wurde nun anlässlich Mommsens 80. Geburtstag erneut abgedruckt. [1]
Mit Jürgen Peter Schmieds Buch - es handelt sich um die überarbeitete Fassung seiner Bonner Dissertation - liegt nun auch die erste umfassende Biographie des politischen Publizisten und historischen Autors Sebastian Haffner vor. Frühere biographische Arbeiten, etwa von Uwe Soukup, hatten sich weitgehend auf die Analyse von Haffners Schriften beschränkt. Schmied hingegen standen erstmals die umfangreichen - bislang unveröffentlichten - Tagebücher Haffners zur Verfügung, die bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückreichen und einen aufschlussreichen Blick in die Gedankenwelt des jungen Raimund Pretzel zulassen. (Allein einige frühreife dramatische Versuche werden von seinen Nachkommen, wie der Leser an einer Stelle erfährt, weiterhin unter Verschluss gehalten). So etwa ein Eintrag aus dem Jahr 1925, als der 18-jährige Abiturient und möchtegern Dandy auf einer längeren Eisenbahnfahrt in die Sommerferien sich über die ungepflegte Erscheinung seiner Mitreisenden in der vierten Klasse mokierte: "Welcher Mangel an Eitelkeit, die erst den Menschen macht", echauffierte er sich; dabei sei es doch gerade die Eitelkeit, die den Menschen voranbringe und eine wesentliche Triebkraft seines Schaffens darstelle.
Einen Mangel an Eitelkeit kann man Haffner zeit seines Lebens gewiss nicht vorwerfen; eher das Gegenteil war der Fall, wie die Lektüre von Schmieds Buch mehr als einmal deutlich vor Augen führt. Gleichwohl - auch darauf weist Schmied hin - fehlte Haffner bei aller Geltungssucht nie die kritische Distanz zu seiner Person und auch seiner Arbeit, selbst wenn das Urteil dabei mitunter wenig schmeichelhaft für ihn ausfiel. Etwa machte er sich keine Illusionen darüber, was seine ersten publizistischen Erfolge in den Feuilletons anbelangte, von denen die meisten in die Zeit nach der nationalsozialistischen Machteroberung fielen und darauf zurückzuführen waren, dass bisherige Größen wie Kurt Tucholsky, Siegried Kracauer oder Joseph Roth ersetzt werden mussten; zu den Profiteuren zählten junge aufstrebende Autoren wie Dolf Sternberger oder eben Haffner, der in diesem Zusammenhang selbst einmal von "Nazi-Gewinnlern" gesprochen hat. Dennoch gab Haffner 1938 freiwillig eine aussichtsreiche juristische und publizistische Laufbahn auf, um mit seiner zukünftigen Frau, einer Jüdin, nach England überzusiedeln; dass das keine Selbstverständlichkeit war, zeigt auch das Beispiel des nicht minder ehrgeizigen Alfred Andersch, der in Deutschland geblieben war und sich noch 1943 von seiner halbjüdischen Frau hatte scheiden lassen. Gerade dem Bürgersohn Haffner, dem bislang alles in seinem Leben weitgehend mühelos zugeflogen war, dürfte der Schritt in die Emigration sowie die damit einhergehenden finanziellen Schwierigkeiten nicht leicht gefallen sein. Zumal es ihm erst nach der Veröffentlichung von "Germany: Jekyll and Hyde" (1940) gelang, als Publizist in den britischen Medien Fuß zu fassen - zunächst bei der "Zeitung", einem von ihm mitbegründeten und von der britischen Regierung finanzierten Emigrantenblatt, ab 1942 dann als Mitarbeiter des renommierten "Observer", wo er rasch zum außenpolitischen Leitartikler aufstieg (wobei er wiederum davon profitierte, dass sich zahlreiche potentielle Konkurrenten im Kriegseinsatz befanden).
Bereits in seinen frühen publizistischen Arbeiten für den "Observer" zeichnete sich Haffner dadurch aus, dass er - wie Schmied es treffend nennt - zur "gehobene Panikmache" neigte; ein Markenzeichen, für das Haffner später auch hierzulande berühmt und berüchtigt war. Tatsächlich passierten in seinen Texten die ungeheuerlichsten Dinge: Als etwa im Frühjahr 1941 der britische Botschafter in den USA und der amerikanische Präsident Roosevelt bei einem Routinegespräch in New York die Gemeinschaft der angelsächsischen Staaten beschworen, wertete Haffner das Treffen als "einen der größten weltgeschichtlichen Vorgänge"; und wenig später erblickte er im ominösen Schottlandflug von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß bereits den "Zusammenbruch der deutschen Inlandspropaganda". Kurzum, schon der junge Autor Haffner liebte die drastische Formulierung und den spektakuläre Auftritt, und daran sollte sich auch in späteren Jahren nicht viel ändern. Stets lauerte bei Haffner der Krieg (oder zumindest eine ganz besonders bedrohliche Krise) an der nächsten Ecke, und immer konnte die gewaltige Gefahr nur mit heldenhaftem Mut und äußerster Entschlossenheit abgewandt werden.
Nach heftigen Redaktionsinternen Querelen wurde Haffner schließlich im Januar 1954 - zur Erleichterung zahlreicher Kollegen - vom "Observer" als Korrespondent nach Deutschland entsandt; man könnte auch sagen: er wurde strafversetzt. Die Folge davon war, dass er künftig keine Meinungsbeiträge, sondern nüchterne Berichterstattung liefern musste. Dass Haffner dies nicht behagte, war klar. Und er machte keinen Hehl daraus; nach Bonn - damals immerhin die Hauptstadt - reiste er praktisch nie; als Grundlage für seine Berichte reichte ihm die Tageszeitung, die er ja auch in Berlin lesen konnte. Kein Zweifel also: Nach seinen frühen Erfolgen waren die fünfziger Jahre für Haffner einer berufliche Durststrecke; und er selbst wusste das nur zu genau.
In dieser Zeit fand bei Haffner eine erste - wenngleich noch sehr zaghafte - Umorientierung statt - weg vom Journalismus, und hin zu Literatur. Doch war der Übergang hier fließend, und er begann erneut mit publizistischen Engagements, allen voran beim politischen Boulevardblatt "Stern". Dort vollzog Haffner auch den öffentlich vieldiskutierten Wandel vom Befürworter der BRD-Westintegration zum lautstarken Verfechter eines Ausgleichs mit der Sowjetunion, was ihm sogar den Vorwurf einbrachte, ein Spitzel der DDR zu sein. Wie groß sein Bekanntheitsgrad mittlerweile war, zeigt der Umstand, dass ihn Mitte der sechziger Jahren rund 14 Prozent der Akademiker als eine "orientierungsstiftende Instanz" ansahen; damit lag er zwar knapp hinter Heinrich Böll, aber noch vor dem Spiegel-Gründer Rudolf Augstein. Haffner war in den sechziger Jahren - wie es ein Kollege einmal halb bewundernd, halb spöttisch formulierte - zu einem publizistischen "Markenartikel" geworden.
Was lag also näher, als die bewährte Form des Zuspitzens und Polemisierens auch auf die Geschichtsschreibung zu übertragen, zu der Haffner in seinen späten Jahren zunehmend zurückkehrte. Zumal die Aufgabe des Historikers für ihn primär darin bestand, "Extrakte und Resultate zu liefern, und zwar in pointierter, griffiger Form". Von akademischer Genauigkeit wollte er nichts wissen. Im Gegenteil, der universitären Historiographie begegnete er - von einigen Ausnahmen abgesehen, zu denen u.a. Fritz Fischer zählte, bei dessen Werk er sich großzügig bediente - mit Verachtung. Umso größer war die Überraschung, als Haffner 1978 mit seinen "Anmerkungen zu Hitler" ein in weiten Teilen nüchternes, solide recherchiertes Buch vorlegte, das vollkommen zurecht zu einem Bestseller avancierte. Möglicherweise, vermutet Schmied, hing die Abgeklärtheit der "Anmerkungen" auch damit zusammen, dass der entscheidende Anstoß dazu nicht von Haffner selbst, sondern von außen kam, nämlich von seinem Verleger Helmut Kindler.
Somit war Haffner - knapp 40 Jahre nach "Germany: Jekyll and Hyde" - also wieder bei dem Thema angekommen, das im Grunde sein Lebensthema war: das 'Dritte Reich' und die Rolle, die Hitler darin eingenommen hatte.
Schmied zeichnet in seinem Buch den langen Lebensweg Haffners in großer Detailfülle eindrucksvoll nach (wenngleich an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Mut zur Lücke die Lesbarkeit noch erhöht hätte). Dem Publizisten und Schriftsteller Haffner begegnet er mit Anerkennung und Sympathie, dem Polemiker und politischen Wendehals hingegen mit Kritik und einem Anflug von Ironie. Das ist angemessen, denn Haffner war eben (fast) immer beides; brillanter Stilist und Denker, und zugleich eitler Selbstdarsteller und Provokateur, der immer auch bereit war, für eine gelungene Pointe vormals vertretene Positionen wieder fallenzulassen.
Florian Keisinger