Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, 3. Auflage, München: C.H.Beck 2009, 319 S., 109 Abb., ISBN 978-3-406-57092-6, EUR 29,90
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Die Perspektive als bildnerisches Mittel und als Instrument zur Beschreibung des Blicks wurde in Florenz am Beginn des 15. Jahrhunderts entwickelt. Diese Schulbuchweisheit erweitert Hans Belting mit "Florenz und Bagdad" um wichtige Elemente. [1] Er geht den Quellen nach, aus denen sich die Leistung der Florentiner Künstler und Gelehrten speiste, und stellt fest, dass sie auf der Entlehnung einer optischen Theorie aus dem arabischen Orient beruhte. Das Kitāb al-Manāẓir des Abū 'Alī Ibn al-Haiṯam (st. 1039, im Abendland als "Alhazen" bekannt), im 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt, enthält grundlegende Untersuchungen zur Ausbreitung und Brechung des Lichts. Die Rezeption von Ibn al-Haiṯams Licht- und Sehtheorie löste eines der spannendsten Kapitel der abendländischen Kunstgeschichte aus.
Belting zeichnet den Rezeptionsprozess der Sehtheorie nach; er ordnet diese Rezeptionsgeschichte aber auch in den weiteren kunst- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext ein. Dadurch wird die Bedeutung der Sehtheorie für die abendländische Kunst und Kultur sichtbar. Es geht ihm um nichts Geringeres als eine "Geschichte des Blicks", wie der Untertitel des Buches andeutet - damit bewegt er sich in einem der aktuellen kunsthistorischen Diskurse. Die sechs Kapitel des Buches nähern sich dieser Geschichte jeweils von verschiedenen Seiten: Auf eine erste Abhandlung zur Bedeutung der Perspektive oder ihr 'Fehlen' im islamischen Kulturbereich folgt im zweiten Kapitel eine Annäherung an das islamische 'Bilderverbot' und seine kulturellen Implikationen. Die Kapitel drei bis fünf behandeln im engeren Sinne das Hauptthema: Die optische Theorie Ibn al-Haiṯams, ihre Rezeption und die Genese einer perspektivischen Kunst in Italien. Das sechste Kapitel behandelt mit der Rolle des "Subjekts im Bild" gewissermaßen ein Resultat der Integration der Perspektive in die Kunst.
Jedes Kapitel hat seinen Schwerpunkt in einem der beiden Kulturräume, dem islamischen oder dem abendländischen, schließt aber mit einem sogenannten "Blickwechsel", in dem ein Moment des jeweils anderen Kulturraumes zur Sprache kommt. Diese vergleichende und kontrastierende Art der Betrachtung macht nicht nur den Reiz des Buches aus, sie gehört zu seinem Kern. Die "westöstliche Geschichte des Blicks" möchte von Grund auf interkulturell arbeiten. Dieser Ansatz weitet den fachlichen Horizont und zielt darauf ab, die für gewöhnlich selbst auferlegte und traditionell verankerte Beschränkung der Kunstgeschichte auf den 'Westen' zu überschreiten. Belting stellt ja nicht nur fest, dass eine entscheidende Wendung in der Kunstgeschichte der Renaissance durch eine Rezeption aus dem islamischen Orient angeregt wurde, sondern er probiert auch immer aufs Neue aus, welche neuen Aspekte der "Blickwechsel" darüber hinaus erkennen lässt.
Inwiefern Belting die Bedeutung der Ibn al-Haiṯam-Rezeption für die westliche Kunstgeschichte richtig einschätzt, und inwieweit er mit dieser Herleitung der perspektivischen Darstellung Neuland beschreitet, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Hier scheint vor allem die West-Ost-Beziehung einen genaueren Blick wert. Sie ist von Bedeutung für die Perspektive der Kunstgeschichte als akademisches Fach, als Forschungsgebiet, und für das Verhältnis zwischen einer 'Kunstgeschichte' und einer 'Islamischen Kunstgeschichte'. Grundsätzlich begrüßt man es aus der Sicht der islamischen Kunstgeschichte natürlich, wenn ein profilierter 'westlicher' Kunsthistoriker feststellt, dass eine entscheidende Wendung in der Kunstgeschichte der Renaissance durch eine Rezeption aus dem islamischen Orient angeregt wurde, und man wertet es als erfreuliches Signal, dass der "Blickwechsel" darauf angelegt sein muss "beide Kulturen in ihrer Eigenart zu verstehen" (281). Dem stehen aber gewisse epistemologische Schranken und konzeptionelle Einengungen entgegen, die in Beltings Text überdeutlich zutage treten.
Das beginnt bei Kleinigkeiten: So hatte beispielsweise der Prophet Muhammad angeblich Schreiber engagiert, die den Korantext notierten (80), die Palastbibliothek der Fatimiden ging 1171 "in Flammen auf" (92), die arabische Schrift ist "nicht phonetisch ausgebildet" (128), der abgebildete Innenraum des Imām-Riżā-Schreins in Mašhad mit seiner neuzeitlichen Spiegelverkleidung wird auf das 13. Jahrhundert datiert, die Vokabel "Muqarnas" wird als Plural aufgefasst, und dergleichen mehr. Kleinigkeiten, wie gesagt; aber wie würde ein Kunsthistoriker reagieren, wenn man den Londoner Stadtbrand von 1666 mit einer Plünderung oder einem Erdbeben verwechselte oder die Borromini-Überformung der Lateransbasilika als Beispiel frühchristlicher Architektur zitierte?
Schwerer wiegen die Verzerrungen, wenn Entwicklungen in der islamischen Kunst dargestellt werden: Geometrischer Dekor sei in der islamischen Kunst immer so angelegt, dass er in der Fläche aufgeht (42); die Arabeske wird mit Sternflechtmustern ("girih mode") weitgehend gleichgesetzt (130) - erst mit den Mongolen sei das vegetabile Element in die Arabeske gekommen (50); Bilderzählungen wurden angeblich überhaupt erst im Zuge der Mongolenherrschaft aus Ostasien in die islamische Welt importiert (93); die ganze Buchkultur sei eine Innovation höfischer Kreise des 13. Jahrhunderts gewesen (92). Offensichtlich verwendet Belting halb verstandene Aussagen über Elemente der islamischen Kunstgeschichte als Versatzstücke im Sinne seiner Argumentation.
Sie ordnen sich in ein Gesamtkonzept ein, das bereits in den ersten Kapiteln streng konturiert wird: Die orientalisch-islamische Welt als eine wesensmäßig bilderfeindliche, ja sogar bilderlose Kultur. Das "Bild, das es in dieser Kultur nicht gibt" (85) wird zum Leitmotiv der Kontrastierung zwischen Ost und West. Weder die Fresken von Afrasiyab noch die Buchillustrationen al-Wasitis (um nur zwei Beispiele aus der vormongolischen Zeit zu nennen) können diese apriorische Feststellung modifizieren. Inwieweit die Ablehnung von Bildern im religiösen Bereich (bis zum Aufkommen der illustrierten Prophetenbiografien ab dem 14. Jahrhundert) auch die genauere Kenntnis von Bildern und ihrer "Mächtigkeit" (nach Christoph Bürgel) voraussetzen könnte, wird nicht erwogen. Beinahe versteht es sich von selbst, dass von den Bildzyklen der safavidischen Wandmalerei, den Moghul-Porträts, den Genreszenen Levnis keine Rede ist. Denn Bilderlust und Ikonophobie im islamischen Orient, die Bedingungen, unter denen Bilder gesucht oder vermieden wurden, sind nicht Beltings Thema. Das orientalische "Tabu" gegen Bilder und insbesondere Porträts (62), dient nur als Folie, vor der sich die Entwicklung im 'Westen' umso deutlicher darstellt. Der "Blickwechsel" entpuppt sich als purer Orientalismus. Ob man es, 30 Jahre nach Edward Saids Buch "Orientalism", als selbstironische Wendung werten sollte, wenn Gérard de Nerval als Kronzeuge für die islamische Bilderfeindlichkeit zitiert wird (58f.)?
Jedenfalls erleichtern die Verengung des Blicks und das Fortlassen vieler wichtiger Teilaspekte in einem "visus contractus" (Cusanus, bei Belting 241) die Hypothesenbildung. Die islamische Kultur als das 'Andere', in dem die Rezeption Ibn al-Haiṯams gerade nicht für die Kunst genutzt wurde, verdeutlicht den Charakter der Florentiner Innovation. Glücklich, dass in der heutigen postkolonialen Grundkonstellation damit kein Werturteil verbunden ist. Glücklich auch, dass eine Selbstreflexion über diesen Standpunkt an mehreren Stellen aufscheint (39, 272, 281).
Was bleibt für die islamische Kunstgeschichte, angesichts von essentialistischer Reduktion im Grundsätzlichen und einigen Missverständnissen im Detail, von Beltings "westöstlicher Geschichte des Blicks"?
Für den islamischen Orient steckt die Untersuchung dieser Geschichte überhaupt noch in den Anfängen. Während die allgemeine Frage nach der 'Erlaubtheit' und Vermeidung von Bildern schon häufig erörtert wurde, sind Werke aus dem orientalisch-islamischen Kulturbereich nur ansatzweise auf Bildhaftigkeit, Abstraktionsgrad, Plastizität oder Einbindung untersucht worden. Offenbar liegen die kulturellen Schranken für die Kunstgeschichte hier recht hoch, während der Orientalistik meist das kunstwissenschaftliche Werkzeug fehlt, um in einen Diskurs über bildtheoretische Themen einzutreten.
Im Einzelnen spricht Belting noch weitere Aspekte an, die mit Bezug auf die islamische Kultur- und Kunstgeschichte mit Gewinn diskutiert werden können. Vor allem der von Ernst Cassirer entwickelte Begriff der Symbolischen Form scheint vielversprechend, wenn man mit ihm Erscheinungen wie Verschleierung, Geometrie oder Illumination angeht. Auch die Terminologie für Sehen, Sicht, Anblick und Blick, wie sie Belting für europäische Sprachen streift (283ff.), wäre eine weitere Beschäftigung wert. Die Rolle des Schauenden wie des Geschauten auf diese Weise zu untersuchen, könnte zur westöstlichen Geschichte des Blicks einiges beitragen. In jedem Fall ist es zu begrüßen, wenn die kunsthistorische Kompetenz in bildtheoretischen Fragen in stärkerem Maß auf Werke 'islamischen' Ursprungs Anwendung findet und Beltings Anregung zum Dialog weiter entwickelt wird. Die Islamische Kunstgeschichte kann ihrerseits dazu beitragen.
Unter der Voraussetzung, dass der geschilderte "visus contractus" vor allem als Kunstgriff der Darstellung in Beltings westlich zentriertem, kaleidoskopischem Ansatz verstanden wird, ist sein Buch allen zu empfehlen, die sich für Grundlinien der Kulturgeschichte zwischen Ost und West interessieren. Es ist ernst zu nehmen als Versuch, von der abendländischen Kunstgeschichte aus den Blick zum islamischen Orient zu öffnen und Ansätze für vergleichendes Arbeiten zu suchen.
Anmerkung:
[1] Siehe zur vorliegenden Besprechung auch die andere Schwerpunkte setzende Rezension von Wolfgang G. Schwanitz in Kunstform 10 (2009), Nr.02, http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2009_02&review_id=14408.
Lorenz Korn