Wolf Gruner / Jörg Osterloh (Hgg.): Das "Großdeutsche Reich" und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den "angegliederten" Gebieten (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 17), Frankfurt/M.: Campus 2010, 440 S., ISBN 978-3-593-39168-7, EUR 39,90
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Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018
Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945, München: Oldenbourg 2006
Jörg Osterloh / Harald Wixforth (Hgg.): Unternehmer und NS-Verbrechen. Wirtschaftseliten im "Dritten Reich" und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M.: Campus 2014
Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hgg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Dieses Buch ist kein Sammelband im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein Kompendium, ein Nachschlagewerk. In insgesamt zwölf Beiträgen wird hier die nationalsozialistische "Judenpolitik" in den an das Deutsche Reich angrenzenden Gebieten dargestellt. Anders als bisherige Darstellungen, die sich zumeist nur auf den Westen oder den Osten konzentrierten [1], werden hier alle Territorien systematisch in den Blick genommen, auch kleine Regionen wie etwa Eupen-Malmedy oder das Memelgebiet. Mit Österreich oder dem Saarland berücksichtigen die Herausgeber auch Teile des Reichs, die wegen der Konzentration auf die Kriegsjahre ab 1939 oft vernachlässigt bleiben.
Das Werk steht damit für den seit längerem anhaltenden Trend, den Blick auf überschaubare Regionen zu richten, und zwar sowohl im Reich als auch den eroberten Gebieten. Die kleinen Untersuchungsräume erlauben dabei im Rahmen von "Tiefenbohrungen" detailliertere Antworten auf Fragen, zu denen es sonst zumeist nur allgemeine Aussagen gibt. Mit der Exklusion und Inklusion von Minderheiten im Nationalsozialismus kommt ein weiteres Thema in den Blick, das die Forschung gegenwärtig stark beschäftigt. Manche Aufsätze behandeln einerseits die einheimische Kollaboration, andererseits die "Volksdeutschen" als Profiteure der antisemitischen Politik. Erstaunlicherweise gibt es bis jetzt keine monographische Studie zu dieser Gruppe [2], obwohl sie wie keine andere von den Nationalsozialisten umworben und gewissermaßen zum Nukleus einer "Germanisierung" wurde. Auch vergleichende Forschungen zur deutschen Politik in den besetzten beziehungsweise eingegliederten Gebieten sind nach wie vor rar. [3]
Um die Vergleichbarkeit der Entwicklungen in den verschiedenen Territorien zu ermöglichen, sind die Beiträge nach gleichem Muster aufgebaut. Sie stellen zuerst die Situation vor der Annexion dar, gehen dann auf die militärische Eroberung und erste antijüdische Maßnahmen sowie auf das Verhalten der nichtjüdischen "Nachbarn" ein, um schließlich die Eingliederung und den Holocaust, aber auch Täter, Strukturen und Volkstumspolitik abzuhandeln. Freilich ist die Gewichtung in den Texten durchaus unterschiedlich, was zu einem erheblichen Teil auf die Literatur- und Quellenlage zurückzuführen ist. Da die Herausgeber für ihr ambitioniertes Vorhaben jedoch ausgewiesene Spezialisten gewinnen konnten, überzeugen die Beiträge insgesamt in hohem Maße.
Weniger gelungen ist lediglich der Text von Wolfgang Gippert zu Danzig-Westpreußen, weil er weder Archivalien noch die polnische Forschung berücksichtigt. Dies bleibt allerdings die Ausnahme. Andreas Schulz etwa zeigt in seinem Aufsatz zum Regierungsbezirk Zichenau, jener Ostpreußen angegliederten Region Polens um die Städte Ciechanów und Białystok, wie weit eine präzise Auswertung der polnischen Literatur tragen kann. Anders geht Wolf Gruner vor, der seinen Beitrag über das Protektorat Böhmen und Mähren mit zahlreichen Quellen aus dem U.S. Holocaust Memorial Museum fundiert, bei denen zugleich die ursprüngliche Herkunft aus Tschechien nachgewiesen wird, so dass eine optimale Auffindbarkeit garantiert ist. Beeindruckend ist auch der Artikel Ingo Looses zum Warthegau. Der Autor beherrscht die mittlerweile hochkomplexe Holocaustforschung souverän, führt selbst abgelegene Detailstudien auf und ordnet das Geschehen in seinem Untersuchungsraum in die großen Zusammenhänge ein.
Überhaupt ist das hier besprochene Buch ein äußerst nützliches Arbeitsinstrument, das den Leser auch mit Karten zu jeder Region, einem Personen- und Ortsregister, Bildern, einer geographisch gegliederten Auswahlbibliographie und einem Forschungsüberblick erfreut - letzterer formuliert allerdings im Wesentlichen die Literaturliste aus. Instruktiver und anregender ist die kluge Einführung der Herausgeber, in der sie die zentralen Probleme ihres Themas und die erzielten und Ergebnisse erläutern.
Wegen seines umfassenden Ansatzes zeigt das Kompendium aber auch die Grenzen einer vergleichenden Analyse des Holocaust auf. Künftige komparatistische Studien zwischen Ost und West werden eines inhaltlich und methodisch ausgefeilten Konzepts bedürfen, um wirklich ertragreich zu sein. Immerhin ist es keine neue Einsicht mehr, dass die Politik im Reich nicht einfach nach außen getragen wurde, dass sich die Verfolgung nicht zeitgleich entwickelte, dass die regionale Dynamik zentralen Einfluss auf die Entrechtung und Ermordung der Juden hatte und dass deshalb große Unterschiede bestanden. Abgesehen davon ist es auch übertrieben, wenn für weite Teile Europas ein "Forschungsnotstand" konstatiert wird. Tatsächlich zeigen die Beiträge, die doch hauptsächlich aus der Literatur gearbeitet sind, dass dem zumindest für die Fragestellungen des hier besprochenen Sammelbandes meist nicht mehr so ist. Andere Aspekte sind in der Tat noch zu wenig beleuchtet, etwa zum Mit- beziehungsweise Gegeneinander der Ethnien, zum jüdischen Leben und Alltag unter der Verfolgung oder zu deren ökonomischen Aspekten. Doch die hier benannten Desiderate nicht als Monita zu verstehen, sondern vielmehr als Anregungen, die über dieses grundlegende Buch hinausgehen. Was hier vom Fritz Bauer Institut vorgelegt wurde, ist nicht weniger als ein Standardwerk.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Jochen Böhler / Jacek Młynarczyk: Der Judenmord in den eingegliederten Gebieten 1939-1945, Osnabrück 2010.
[2] Vgl. Stephan Lehnstaedt: Volksdeutsche in Tschenstochau. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik für Täter, Profiteure und Zuschauer des Holocaust, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008), S. 425-452.
[3] Wegweisend und anregend, wenn auch wegen des generalistischen Anspruchs im Detail nicht selten unpräzise: Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009; Czesław Madajczyk: Faszyzm i okupacje, 1938-1945. Wykonywanie okupacji przez państwa Osi w Europie [Faschismus und Okkupation 1938-1945. Besatzungsherrschaft im Europa unter dem Hakenkreuz], 2 Bde., Warszawa 1983.
Stephan Lehnstaedt