Wolfgang Benz / Michael F. Scholz: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte Band 22. Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949, Die DDR 1949-1990, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, XLIX + 686 S., ISBN 978-3-608-60022-3, EUR 42,00
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Anlässlich des diesjährigen Historikertages feierte der Verlag Klett-Cotta in Berlin den Abschluss der 10. Auflage des Handbuchs der deutschen Geschichte, obwohl noch fünf der insgesamt 24 Bände ausstehen. Immerhin ist jetzt schon die Zeit ab 1945 abgearbeitet. Nachdem zunächst Edgar Wolfrum vor einigen Jahren seinen Band zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt hatte [1], folgte nunmehr das mit Spannung erwartete Werk zur DDR. Dieses behandelt jedoch auch die Besatzungszeit, so dass für den ostdeutschen Teilstaat noch nicht einmal zwei Drittel des Buches zur Verfügung stehen. Der Zuschnitt erfolgte offenbar aus pragmatischen Gesichtspunkten; eine inhaltliche Begründung erfährt der Leser jedenfalls nicht. Der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, zeichnet für den ersten, der an der Universität Gotland (Schweden) lehrende Michael F. Scholz für den umfangreicheren zweiten Teil verantwortlich.
Benz kann sich bei seiner Darstellung der Zeit zwischen Kriegsende und doppelter Staatsgründung auf eigene Überblicksstudien stützen, die er bereits in den 1980er Jahren verfasst hat. [2] Insofern findet der kundige Leser an vielen Stellen Altbekanntes wieder. In bewährter Weise schildert Benz die deutschlandpolitischen Ziele der alliierten Siegermächte, die Errichtung der Besatzungsherrschaft sowie die Gründungsgeschichte der beiden deutschen Staaten. Dabei verweist er zu Recht auf die Bedeutung der Besatzungszeit für die weitere Entwicklung Deutschlands nach 1945. Er unterschlägt zwar nicht deutsche Traditionen, die nach dem Untergang der NS-Herrschaft noch wirkungsmächtig blieben; er nimmt jedoch eine eindeutige Bewertung vor, die in dieser schematischen Form umstritten ist. Insgesamt gesehen handelt es sich primär um eine Politikgeschichte der ersten Nachkriegsjahre. Man erfährt vieles über den Aufbau von Verwaltungsstrukturen, Parteien und ausgewählten Interessenverbänden. Breiten Raum nimmt die Darstellung der Entnazifizierung ein, die in den einzelnen Besatzungszonen recht unterschiedlich ausfiel und zum Teil divergierende Ziele verfolgte. Der Weg zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR wird ausführlich geschildert und angemessen in den internationalen Kontext des Kalten Krieges eingebettet. Dagegen erfährt man über die deutsche Nachkriegsgesellschaft nur sehr wenig. Sie erscheint oft nur als Objekt der Politik. Sehr akribisch wird die Entwicklung von der Übergabe der Frankfurter Dokumente an die westdeutschen Ministerpräsidenten bis zur Verabschiedung des Bonner Grundgesetzes nachgezeichnet. Bei der Darstellung ist der Fokus häufig auf die Westzonen gerichtet. Dagegen erscheint die sowjetische Besatzungszone (SBZ) eher am Rande und ziemlich blass. So beschreibt Benz etwa die sozioökonomische Entwicklung der SBZ auf zwei Seiten ausschließlich als "Sonderentwicklung" (93), obwohl es doch angesichts der katastrophalen Ausgangslage durch die Kriegszerstörungen Gemeinsamkeiten in allen vier Besatzungszonen gab. Die vor einigen Jahren ausgetragene Debatte zwischen Christoph Buchheim und Rainer Karlsch über den Stellenwert der Demontagen und Reparationen für die spätere wirtschaftliche Entwicklung in der DDR erwähnt er nicht.
Insgesamt bietet der erste Teil des Bandes wenig Neues und wirkt sogar altbacken. Der Forschungsstand zur Geschichte der SBZ aus den vergangenen zwanzig Jahren wird nicht zuverlässig und bei weitem nicht umfassend wiedergegeben. Darüber hinaus fehlen auch hier einige wesentliche Neuerscheinungen. [3] Der Beitrag von Wolfgang Meinicke über die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone erschien 1984 übrigens nicht in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, sondern in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, eine für diesen Zeitpunkt nicht unwichtige Unterscheidung.
Scholz unterteilt seine Darstellung der DDR-Geschichte chronologisch in fünf Kapitel, die sich im Wesentlichen an den großen politischen Weichenstellungen orientieren (1955, 1961, 1971, 1981). Jedes einzelne Kapitel ist wiederum sachthematisch gegliedert und behandelt sowohl die politische, wirtschaftliche, soziale als auch die kulturelle Entwicklung des ostdeutschen Teilstaates im jeweiligen Zeitabschnitt. Einleitend beleuchtet er - entsprechend der vorgegebenen Grundstruktur des Gebhardt - den Forschungsstand und skizziert dabei auch zentrale Forschungskontroversen. Dieser Abschnitt ist einerseits mit rund 20 Seiten relativ ausführlich ausgefallen; andererseits fehlt beispielsweise der Hinweis auf in den 1990er Jahren in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft ausgetragene Kontroverse zwischen Sigrid Meuschel, Ralph Jessen und Detlef Pollack, die von zentraler Bedeutung war für die Debatte über die DDR-Gesellschaft im Staatssozialismus. Bei der Gegenüberstellung der verschiedenen Begriffsangebote (Fürsorgediktatur, vormundschaftlicher Staat, Organisationsgesellschaft, Konsens-Diktatur) fehlt der Vorschlag Martin Kohlis, die DDR als Arbeitsgesellschaft zu begreifen. Im ersten Kapitel schildert Scholz die Umwälzungen im politischen und wirtschaftlichen System bis Mitte der 1950er Jahre und beschränkt sich dabei nicht nur auf die deutsche Seite, sondern bezieht auch das wechselhafte und komplizierte Verhältnis der SED zur sowjetischen Besatzungsmacht in die Betrachtung mit ein. In einem eigenen Abschnitt thematisiert er außerdem die kulturpolitischen Veränderungen bis hin zur Formalismus-Debatte, die von der SED-Führung ausgelöst wurde. Das Kapitel endet mit der Beschreibung der Ereignisse vor und nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953, der bekanntlich von einschneidender Bedeutung für die Ost-Berliner Führung, aber auch für die ostdeutsche Gesellschaft war. Mit einer "Politik der Neutralisierung" (353) habe das SED-Regime die große Masse der Bevölkerung "bei allmählich wachsendem Wohlstand und einem Mindestmaß an persönlichem Freiraum passiv" gehalten, so das Resümee des Autors.
Kapitel zwei und drei sind der Hoch- bzw. Endphase der Ära Ulbricht gewidmet. Nachdem sich der SED-Generalsekretär 1953 nur mit Hilfe Moskaus an der Macht halten konnte, verstand er es in der Folgezeit geschickt, seine politische Position rasch auszubauen und innerparteiliche Gegner bis zum Ende des Jahrzehnts auszuschalten. Scholz konzentriert sich nicht nur auf die Innenpolitik, sondern skizziert immer wieder die äußeren, von der Sowjetunion und der Bundesrepublik (Hallstein-Doktrin) vorgegebenen Rahmenbedingungen und beschreibt die ersten außenpolitischen Gehversuche der DDR. Er verweist auch auf die - wenn auch begrenzten - Erfolge in der Sozialpolitik, die den DDR-Bürgern einen "bescheidenen Wohlstand" (429) brachten, so z. B. die Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche sowie die verbesserte Ausstattung der Haushalte mit Konsumgütern. Bei der Analyse der Ulbrichtschen Reformpolitik in den 1960er Jahren geht er allerdings mit seiner Schlussfolgerung etwas zu weit: "Ohne den totalitären Charakter des Systems in Frage zu stellen, darf man feststellen, dass Ulbricht die Modernisierung und Stabilisierung des Landes vorangetrieben hatte. Die Menschen begannen, sich mit dem Land zu identifizieren, wenn sie auch den politischen Verhältnissen keineswegs vorbehaltlos zustimmten." (452) Daraus ergibt sich jedoch ein Widerspruch zur restriktiven Jugend- und Wirtschaftspolitik (Kahlschlag-Plenum, Abbruch der Wirtschaftsreform) ab Mitte der 1960er Jahre.
Die beiden letzten Kapitel befassen sich mit dem real existierenden Sozialismus, d. h. mit der Ära Honecker. Scholz beschreibt zunächst die Aufbruchsstimmung, die anfangs mit dem Machtwechsel verbunden war. Trotz der zunehmenden internationalen Anerkennung, auf die die SED-Führung lange Zeit vergeblich hingearbeitet hatte und die erst infolge des Grundlagenvertrages 1972 gelang, währte der erhoffte "Liberalisierungskurs" (461) nicht lange. Spätestens mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 demonstrierte die SED-Spitze unnachgiebige Härte. Damit war auch nach außen klar erkennbar geworden, dass ein grundlegender Wandel von der neuen Führung nicht zu erwarten war. Wie begrenzt deren Handlungsspielraum war, zeigte sich schon rasch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die eigentlich zum Markenzeichen des Sozialismus werden sollte. Im Zuge des Ölpreisschocks, der letztlich auch die DDR traf, betrat Ost-Berlin endgültig den Weg in die Verschuldung, aus der es schließlich kein Entrinnen mehr gab. Honecker und Mittag waren nicht willens und nicht in der Lage, einen politischen Neuanfang zu finden. Ob es richtig ist, der DDR angesichts dieser sozioökonomischen Entwicklung "typische Strukturen eines modernen Industriestaates" (472) zu bescheinigen, muss stark bezweifelt werden. Stattdessen blieb die DDR dem überholten Bild einer traditionellen Industriegesellschaft verhaftet (Gerhard A. Ritter); der Übergang zur Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft gelang eben nicht.
Dennoch hat Scholz eine insgesamt überzeugende Darstellung zur Geschichte der DDR vorgelegt. Er bietet ein differenziertes Bild des ostdeutschen Staates und hat die Forschungsliteratur weitgehend berücksichtigt. Dies gilt leider nicht für Neuerscheinungen zur akademischen Elite. [4] Den von Peter Hübner und Klaus Tenfelde herausgegebenen Sammelband über Arbeiter in der DDR sucht man ebenfalls vergebens. [5] Merkwürdigerweise tauchen im Werk auch keine Hinweise auf das kürzlich abgeschlossene elfbändige Handbuch zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 auf. [6] Dagegen wird in der Bibliografie ein Werk zitiert, das gar nicht erschienen ist und dennoch seit Jahren durch die Bücherwelt als Phantom geistert. [7]
Abschließend sei noch ein grundsätzlicher Kritikpunkt vorgebracht: Die zeitgenössische Forschung bemüht sich seit geraumer Zeit darum, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR nicht als getrennte Geschichte zu schreiben, sondern Verflechtung und Abgrenzung (Christoph Kleßmann) zwischen den beiden deutschen Staaten angemessen zu berücksichtigen. Auch Scholz macht sich im Übrigen dafür stark, die DDR-Geschichte in die deutsche Geschichte einzubetten und das "antagonistische Miteinander deutscher Zweistaatlichkeit" (268) zu untersuchen. Diese Forderung löst er aber nicht ein. Eine integrierte Nachkriegsgeschichte Deutschlands steht somit nach wie vor aus. Zu der laufenden Diskussion über dieses wichtige Forschungsvorhaben leistet das vorliegende Werk keinen eigenständigen Beitrag. Und noch ein weiterer konzeptioneller Einwand: Während die Besatzungszeit - wie allgemein üblich - integriert betrachtet wird, wird die Vereinigung Deutschlands 1990 sowohl von Wolfrum als auch von Scholz dargestellt. Zweifelsohne kann es reizvoll sein, unterschiedliche Perspektiven auf ein historisches Ereignis anzubieten. Das ersetzt allerdings nicht die Synthese, die man von einem Handbuch erwartet.
Anmerkungen:
[1] Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage; Bd. 23), Stuttgart 2005.
[2] Wolfgang Benz: Die Gründung der Bundesrepublik. Von der Bizone zum souveränen Staat, München 1984; Wolfgang Benz: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München 1986.
[3] Jörg Echternkamp: Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945-1949, Zürich 2003.
[4] Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999; Gunilla-Friederike Budde: Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003.
[5] Peter Hübner / Klaus Tenfelde (Hgg.): Arbeiter in der SBZ/DDR, Essen 1999.
[6] Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung / Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung / Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv. 11 Bände, Baden-Baden 2001-2008.
[7] Jochen Staadt: Dem Westen zugewandt. Die Deutschlandpolitik der SED 1971-1989, Berlin 1999.
Dierk Hoffmann