Matthias Untermann: Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Stuttgart: Theiss 2009, 400 S., ISBN 978-3-8062-2158-9, EUR 49,90
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Bislang gab es Handbücher zur Baukunst, zur Stilgeschichte der Architektur, jedoch keine Übersicht zu Funktionen, Kontext und Gestaltung in der gesamten Breite. Dieses Handbuch systematisiert mittelalterliche Architekturen nicht nur als künstlerische, sondern als kulturhistorische Zeugnisse. Im Vordergrund stehen die Bauaufgaben und Bauformen, vorzugsweise des deutschen Sprachraums. Rund 500 Schlagwörter im alphabetisch geordneten Register erlauben einen schnellen Zugriff.
Das Buch betrachtet in erster Linie das Verhältnis von Funktion und Form. Es bemüht sich weniger um die Polarisierung sakraler und profaner Bauaufgaben, vielmehr um die Spezifika, die Bindungen und Überlagerungen nicht ausschließen. Dies gelingt, weil die Systematik nicht architekturhistorischen Konstrukten unterliegt, stattdessen auf Primärquellen, den baulichen Befunden und zugehörigen Schriftquellen beruht. Forschungsstand und methodische Probleme werden nicht dezidiert besprochen, sondern sind die Grundlage der nivellierenden Analyse, bei der bedeutende kunstwissenschaftliche Leistungen neben schlichten bauarchäologischen Beobachtungen stehen können.
Im Kapitel I. Kirchenbau wird die Typologie lexikalisch abgehandelt, wobei durch die thematische Ordnung der Sinn typologischer Gruppen nachvollziehbar bleibt. Grundlage ist die liturgische Raumhierarchie: Neben Krypta und Chor usw. gibt es auch Informationen zu Uhrenkammern, Altarbaldachinen oder Kirchhofmauern. Moderne Begriffe wie "Westwerk" werden erwähnt, jedoch ohne sich an überholten architekturhistorischen Konstruktionen aufzuhalten. Sinnvoll sind einführende Erläuterungen zur Kathedrale, Pfarrkirche usw., ihrem jeweiligen kirchenrechtlichen Status und abhängige Funktionen und Raumformen. Heterogene Architektur wie die der Bettelorden wurde auf "Normalformen" und Leitbauten beschränkt. Durch die Funktion als Ordnungsprinzip ließen sich auch differente Phänomene wie Beinhäuser, Heilig-Grab-Anlagen oder Wallfahrtskirchen erfassen. Im Kapitel II. wurden Klöster und Stifte gesondert behandelt, um die Verschränkung religiöser und profaner Nutzungen darzustellen. Neben Klausur, Kreuzgang und zugehörigen Elementen, beispielsweise Lesegang oder Brunnenhaus, werden Amtsgebäude wie Pfarrei, Vogtei oder Gebäude anderer religiöser Gemeinschaften, Ritterordenskommenden, Fraterhäuser oder Beginenhöfe besprochen. Kapitel III. widmet sich der jüdischen Baukultur, selbst wenn sich deren Bauten, nicht nur auf Synagogen oder Mikwen beschränkt, nicht erhalten haben, sondern in Schrift- oder Bildquellen Niederschlag fanden. Auch das Kapitel IV. zu den Bauten der weltlichen Herrschaft versucht die Ordnung nach Funktionen beizubehalten: Pfalz, Burg und Schloss, bis hin zu Jagdschloss und Lustschloss. Fehlt der Bauaufgabe eine eigene Typologie, dann wurden die Bauwerke mit Verweis auf spezifische Formen summarisch zusammengestellt. In den Kapiteln V. Stadt und VI. Dorf wird auf Siedlungsstrukturen und Bauwerke eingegangen: darunter Rathäuser und Universitätsgebäude, auch Hafenanlagen und Kräne; im Dorf Adels- und Klosterhöfe, Bauernhäuser, Scheunen, Mühlen, Grangien usw. Da eine typologische Ordnung unmöglich ist, handelt es sich mehr um Objektsammlungen und Befundbeschreibungen, die Sachverhalte wie Baurecht oder Brandmauern einschließen.
Die Unterkapitel versuchen Bauwerke und Bauteile nach verschiedenen Kriterien zu fassen: Bautypen, Bauformen und Funktionen. Diese Systematik wurde im ersten Kapitel angelegt und soweit als möglich beibehalten. Fehlt es bestimmten Bauaufgaben an formaler Stringenz, wurden die formalen Aspekte im Rahmen funktionaler Betrachtungen abgehandelt. Auf den ersten Blick erscheint die Gliederung verwirrend, wird aber in den Texten verständlich und spiegelt letztlich die Vielfältigkeit des erfassten Materials wider.
Ein besonderer Wert des Buches ist, dass es sich nicht auf formale und funktionale Bezüge beschränkt, sondern einen weiteren Betrachtungshorizont eröffnet. Im zweiten Teil widmet sich der Autor den Bauformen und Bautechniken, um Formbildungen von den Bauaufgaben losgelöst zu betrachten und die Baukunst als schöpferischen Komplex darzustellen, der bestimmten handwerklichen Rahmenbedingungen unterlag. Er befasst sich mit dem Holz- und Steinbau, bis hin zu spezifischen Details wie Abbund- und Steinmetzzeichen oder Aspekten des Steinversatzes wie Fundamentierung, Fugenbildung oder Eisenklammern oder den Oberflächen und Gestaltungen eines Bauwerks einschließlich der Dachhaut, den Fußböden, Decken, Türen und Fenstern.
Im Steinbau schließen sich nach Ausführungen zu Umbau- und Reparaturmaßnahmen formale Betrachtungen an: Stützensysteme, Säulen, Pfeiler- und Wandvorlagenformen, Details wie Basen und Kapitelle, Kämpfer und Bogenformen. In Sachgebieten wie dem Gewölbebau hält der Autor trotz aller Komplexität am handbuchgerechten Überblick fest, indem er nicht jeder Sonderleistung, sondern großen Linien und klaren Bezügen nachgeht.
Bei der Darstellung konstruktiver Zusammenhänge wären ab und an Zeichnungen hilfreich gewesen. Die Beschreibungen sind zwar präzise, jedoch für Anfänger mühsam, selbst wenn es sich um einfache Holzverbindungen handelt.
Lobenswert ist, wie sich der Autor um den Zusammenhang von Bauform, Baubefund und Bautechnik bemüht und unscheinbare oder unsichtbare Phänomene wie Entlastungsbögen, Messfehler und Staubwände behandelt. Die Aspekte folgen dem Bauprozess, beginnend mit der Materialgewinnung, über Planung und Fundamentierung bis zum Dach.
Da es sich um ein Buch zur Architektur und nicht zur Baukultur handelt, wird das Technologische als formgenerierende Kraft nicht stringent verfolgt - letztlich um den Handbuchcharakter zu wahren. Hinterließ die Technologie an den Bauwerken Spuren, beispielsweise Reißböden, Steinmetzzeichen oder Eisenklammern, nahm der Autor sie meist als relevante Relikte auf.
Randbemerkung: Gerade das Technologische hält überraschende Befunde bereit, die belegen können, dass es im Mittelalter nicht nur Formwandel, sondern auch erhebliche Technologiewandel gegeben hat, die eigentlich ausschließen, eine 500-jährige Architekturgeschichte als unveränderliche Einheit darzustellen. Ungeachtet sehr spezieller Fragen (Welche Bedeutung maßen innovative Werkmeister dem Eisen im Gewölbebau bei? Mussten Zimmerleute neue Dachwerkkonstruktionen erfinden, damit spätgotische Werkmeister große Kirchen bauen konnten? Brauchte es Türme und Wendelsteine in den Bauphasen, um Erschließungswege und Substruktionen für Kräne zu haben? Beschleunigte die Schmiedekunst und der Gebrauch der Steinzange die Bauabläufe?), die sicher nicht in ein Handbuch gehören, wäre ein Hinweis auf die Bedeutung der Technologie als Formaspekt wünschenswert gewesen, um Architektur als prozessuales Produkt mit ihren Wechselwirkungen hinsichtlich ideeller und materieller Konstruktionen zu verstehen.
Zu fragen ist, wo die Grenze zwischen Bauwerk und Bautechnologie gezogen wurde, warum Baukräne, Haspeln, Gerüstlöcher oder Rampen für Transporttiere unerwähnt blieben. Auch Lehrgerüste oder Steinzangenlöcher tauchen im Schlagwortregister nicht auf. Dies ist aber leicht zu verschmerzen: Letztlich ist der Autor selbst für den hohen Anspruch und die Akribie seiner Befunderfassung verantwortlich, und der Leser erfährt ohnehin mehr als erwartet.
Stefan Bürger