Nayeem Sultana: The Bangladeshi Diaspora in Malaysia. Organizational Structure, Survival Strategies and Networks (= ZEF Development Studies; Vol. 12), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, 368 S., ISBN 978-3-8258-1629-2, EUR 34,90
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Das Verhältnis von Islamwissenschaft zu den Sozialwissenschaften, also zu jenen Wissenschaften, die Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen theoriegeleitet untersuchen und empirisch ermitteln, ist ebenso angespannt wie ungeklärt. Daran hat sich seit dem XVIII. Deutscher Orientalistentag, der im März 2001 in Bamberg eben unter dem Motto "Orientalistik zwischen Philologie und Sozialwissenschaft" stattfand, nichts geändert. Damals hielt Bert G. Fragner als erster Vorsitzender der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Iranistik an der Universität Bamberg den Eröffnungsvortrag zu diesem Thema. Unter anderem meinte er: "Für unsere Kritiker aus der Gesellschaft sind es zur Zeit immer weniger die Methoden oder die wissenschaftlichen Ansätze, die für die Öffentlichkeit Prüfsteine für die Arbeit der Orientalisten abgeben. Politisch und medial zügig zu verarbeitende 'Infos' werden erwartet, und zwar zu Themen, die gestern noch nicht abzusehen waren, heute aktuell und morgen vergessen sind. [...] Es ist nicht an dem, dass die nicht wenigen Kolleginnen und Kollegen, die über derlei Kenntnisse verfügen, diese nicht abrufen oder sich gar verweigern sollten! Dennoch: Solcherlei kann für uns nur Nebenprodukt sein, das ist nicht die Substanz unserer Wissenschaften - wir würden ansonsten längerfristig gerade das aufgeben, was unsere Stärke ist und was den Bestand unserer Disziplinen rechtfertigt: In weiterer Intensivierung unserer philologischen Kompetenzen und permanenter Rezeption geistes- und kulturwissenschaftlicher Debatten und Entwicklungen uns der kognitiven Annäherung an gesellschaftliche, kulturelle und historische Wirklichkeiten und deren Konstruktionen zu verschreiben - in engem Kontakt und Austausch mit den entsprechenden Gelehrten in denjenigen Arealen und Regionen, die wir als unsere Arbeitsschwerpunkte definiert haben." (http://www.dmg-web.de/archiv/2001/reden_fragner.html)
Ich denke, dass Bert Fragner die sozialwissenschaftliche Herausforderung der Islamwissenschaft seinerzeit nicht in vollem Umfang erkannt hat. Meines Erachtens geht es nicht so sehr um eine Befriedigung des von den islamwissenschaftlich arbeitenden Forscher/innen medial und politisch geforderten Informationsbedarfes zu aktuellen Ereignissen, sondern um die Frage, ob es nicht auch der Islamwissenschaft gut zu Gesicht stünde, mittels eines mittlerweile sehr differenzierten sozialwissenschaftlichen Theorieangebotes und Methodenarsenals zu einem sehr viel besseren und ausgewogeneren Verständnis gegenwärtiger Gesellschaften in den von uns ausgewählten Zielländern zu gelangen. Die Herausforderung besteht darin, sowohl textwissenschaftlich und historisch wie auch sozialwissenschaftlich und gegenwartsbezogen zu arbeiten. Das kann natürlich nicht immer von einer Person geleistet werden, aber man sollte sich doch wissenschaftlich gegenseitig anerkennen und die Ausbildungswege in beide Richtungen lenken.
Ein hervorragendes Beispiel für eine sozialwissenschaftliche Arbeit, die auch Teil einer methodisch, theoretisch und inhaltlich weiter aufgefassten Islamwissenschaft sein sollte, stellt die Dissertation von Nayeem Sultana dar, die zwischen 2004 und 2008 an dem Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn angefertigt wurde.
Gegenstand der Arbeit sind die zahllosen Arbeitsmigranten, die infolge der industriellen Transformationsprozesse in Malaysia am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre aus Bangladesch in das Land kamen. Sie gehören zu der weltweiten transnationalen Migration, die zu einem Thema von höchster politischer, sozialer und wirtschaftlicher Wichtigkeit in einer globalisierten Welt geworden ist. Die Beschreibung dieser Migrationsbewegung (Kapitel 2: "Globalization, Industrial Development and the Structural Background of Bangladesh and Malaysia", 17-38) dient Sultana als Einstieg in eine soziologische Analyse der aus Bangladesch stammenden Migrantengesellschaft, deren internen Sozialstruktur, deren Integration in die malaiische Gesellschaft und deren verbliebenen Bindungen zu dem Herkunftsland. Es geht Sultana letzten Endes darum, "to check sojourners' causes of migration [...]; to find out the realities in which migrants are embedded in and develop strategies to cope and survive with [...]; to verify the roles, modes and regulators of networking for diaspora adaption and its consequences [...]; to know the nature of their transnational networking activities, interactions with natives and other diasporas on the one hand and on the other, how these reflect on their concomitant survival strategies and shape the organizational structure of their diaspora." (9) Eine solche Untersuchung macht natürlich eine intensive Feldforschung und eine ethnologische Herangehensweise notwendig. Ihr Datenmaterial musste die Verfasserin daher während längerer Aufenthalte in Bangladesch und in Kuala Lumpur sammeln. Dabei entpuppte sich die Arbeit im Feld als nicht einfach, handelt es sich doch um eine zum Teil diskriminierte oder sogar illegale Gruppe. Eine Mischung aus "Dichter Beschreibung" im Sinne von Clifford Geertz, leitfadengestützten Interviews und Umfragen fügen sich letzten Endes jedoch zu einem zuverlässigen Bild der aus Bangladesch stammenden Migrantengemeinschaft in Malaysia.
Aus der Diasporaforschung konnte Frau Sultana für ihre Fragestellungen ein sinnvolles Schlüsselkonzept ableiten. Für sie bezeichnet "Diaspora" eine Migrantengruppe mit einer fluiden sozialen Organisation, die enge soziale und emotionale Bindungen zu dem Heimatland aufrecht erhält. Ergänzt wird diese konzeptionelle Hinsicht vor allem durch die von dem amerikanischen Soziologen Mark Granovetter entwickelten netzwerktheoretischen Ansätze der "Strength of Weak Ties" und der "Embeddedness". [1] Eine multi-dimensionale Einbindung in eine Gastgesellschaft führt, so Granovetter, zu hybriden nationalen Identitäten, wobei schwache Netzwerkbindungen bessere Chancen für einen sozialen Aufstieg bieten, enge Netzwerkbeziehungen hingegen die Herausbildung von Überlebensstrategien fördern.
Im Verlauf ihrer drei Hauptkapitel [Kapitel 3: "A Socio-economic Profile of the Migrant Bangladeshis in Peninsular Malaysia", 39-144; Kapitel 4: "'Mapping the Organizational Structure of the Bangladeshi Diaspora' - Primordial and Inter-ethnic Networking and Integration in the Host Country", 145-246; Kapitel 5: "Understanding the Organizational Structure of the Bengladeshi Diaspora at this Current Age of Globalization", 247-294) gelingt es Sultana bestens, die Theorieansätze mit den Datenmaterial ihrer Feldforschung abzugleichen und auf dieser Basis zu überzeugenden Resultaten zu kommen. Da hier nicht die faszinierenden Einzelheiten der Untersuchung angemessen vorgestellt werden können, seien nur ein paar der wichtigsten allgemeinen Ergebnisse kurz angesprochen. Die Migranten leben, wie gesagt, in Realitäten, die in mehrere Zusammenhänge gleichermaßen eingebettet sind. Diese "multi-dimensionally embedded realities" sind nicht homogen. Sie formen und verändern sich auf der Grundlage der Nationalität, Klasse, des Status (Rechtsstatus, Alter, Bildung, Zusatzqualifikationen, Aufenthaltsdauer in dem Gastland, Beziehungen etc.), des Geschlechts und der religiöser Zugehörigkeit der Migranten. Um mit diesen unterschiedlichen Realitäten fertig zu werden, entwickeln die Migranten verschiedene Formen von Überlebensstrategien, "due to which some of the migrants convert into reference groups for others. These result in extra and inter-ethnic strong and weak ties in the receiving country." (298) Die multiplen Realitäten und die Überlebensstrategien führen einerseits zu Hybridisierungsprozessen in der Diasporagemeinde, andererseits wächst damit gleichzeitig die ökonomische und kulturelle Mobilität der Gruppe in der Ausgangs- wie auch in der Aufnahmegesellschaft. Nayeem Sultana fasst zusammen:
- "The longer their duration of migrant-life is the more they integrate and assimilate in the receiving societies on the ground that they have then managed to develop networks as well as accumulate and disseminate local knowledge on the ways of integration and assimilation." (307)
- "The hybridization of Bengladeshi Diaspora [...] is found to be an outcome of their adaption process (poor migrants) as well as strategies for upward mobility (well-off entrepreneurs and professionals) that are also guided and regulated by their multi-dimensionally embedded realities." (309-310)
- "As a result, in order to understand the organizational structure of the Bangladeshi Diaspora at this age of globalization, as we need to highlight its inherent dynamism, the different forms of realities, on which migrants are embedded in and try to adjust, cope or by-pass." (321)
Es mag für eine Islamwissenschaft, die sich nicht allein als kulturwissenschaftlich orientierte Religionswissenschaft oder als textzentrierte Philologie verstehen möchte, sinnvoll sein, Arbeiten wie die Promotionsschrift von Nayeem Sultana nicht nur zu akzeptieren, sondern als einen gleichberechtigten Zugang bei der Auseinandersetzung mit sogenannten "islamisch geprägten" Gesellschaften anzuerkennen und in das Fach zu integrieren.
Anmerkung:
[1] Mark Granovetter: The Strength of Weak Ties, in: The American Journal of Sociology 78, 1361-1380; ders.: Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: The American Journal of Sociology 91 (1985), 481-510, ders.: The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited, in: Sociological Theory 1 (1983), 201-233.
Stephan Conermann