Sandra Wagner-Conzelmann: Die Interbau 1957 in Berlin. Stadt von heute - Stadt von morgen. Städtebau und Gesellschaftskritik der 50er Jahre, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, 192 S., 140 s/w-Abb., 15 Farbtafeln, ISBN 978-3-86568-231-4, EUR 29,90
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Als wichtigste Schau der Nachkriegsarchitektur und Podium für die stadtplanerischen Leitbilder der Wiederaufbauzeit gilt nach wie vor die Internationale Bauausstellung (IBA), die 1957 in Berlin stattfand. Die architektonisch aus dieser Ausstellung hervorgehende Maßnahme war der Neubau des kriegszerstörten Hansaviertels im Westen des Berliner Tiergartens. Hier entwarfen international bekannte Architekten wie Walter Gropius, Egon Eiermann, Oscar Niemeyer, Alvar Aalto oder Le Corbusier Versuchsbauten des sozialen Wohnungsbaus in einer aufgelockerten Struktur mit vielen Grün- und Freiflächen und organisch angeordneten Punkt- und Kammhochhäusern, das bekannteste davon ist sicherlich bis heute Corbusiers Unité d'Habitation "Typ Berlin". Während die Architektur des Hansaviertels bereits hinreichend Würdigung als bedeutendes Ensemble der 1950er-Jahre erfahren hat [1], fehlte bis jetzt eine Analyse der städtebaulichen Konzeption sowie der die Ausstellung begleitenden Sonderschau "die stadt von morgen". Sandra Wagner-Conzelmann untersucht in der vorliegenden Dissertation nun genau diesen städtebaulichen Diskurs der IBA auf seine Relevanz für die gesellschaftskritischen und stadtsoziologischen Aspekte der 1950er-Jahre.
Zu diesem Zweck hat die Autorin eine Fülle von Archivalien ausgewertet, u.a. die Nachlässe der IBA-Organisatoren wie Karl Otto und Walter Rossow (Archiv für Baukunst der Akademie der Künste Berlin), Erich Kühn (Rheinisch-Westfälische Technische Universität Aachen) und Otto Bartning (Technische Universität Darmstadt). Erstmalig hat sie die Protokolle der sogenannten "Bauherrengespräche" aufgearbeitet, die 1955 bis 1956 im Vorfeld der IBA als interdisziplinäre Diskussionsrunden zwischen Ausstellungsveranstaltern und Fachleuten stattfanden (67-96). Die Auswertung dieser Arbeitsgespräche verdeutlicht sehr gut, wie konträr zunächst die Meinungen über den zukünftigen Städtebau der 1950er-Jahre in Westdeutschland gelagert waren, man sich jedoch dann auf das eigentlich bereits überholte Modell der durchgrünten und aufgelockerten Stadt einigte, nicht zuletzt, um dem politischen Instrumentarium der pro-amerikanischen, modernen City Genüge zu leisten.
In dem Kapitel zur Sonderausstellung "die stadt von morgen" rekonstruiert Sandra Wagner-Conzelmann nach einer Beschreibung des hypermodernen Pavillons als Stahlstrebenkonstruktion mit Zeltdach von Karl Otto, Frei Otto und Günther Günschel in einem Gang durch die Schau die einzelnen Sektionen wie "Stadt und Mensch", "Stadt und Gesundheit", "Stadt und Natur" und "Stadt und Verkehr" (101-115). Anhand vieler dokumentierender historischer Fotos von den Ausstellungsräumlichkeiten wird deutlich, mit welchem kritischen und ganzheitlichen Ansatz man bereits damals am Ende der 50er-Jahre das Problemfeld Stadt mit seinen Auswirkungen auf die Psyche und Gesundheit der Menschen beleuchtete. So wurde der Autoverkehr durch die Stadt bereits als gravierende Beeinträchtigung angesehen und Entwürfe für eine klare Trennung der einzelnen Verkehrsarten mit entsprechend gesonderten Verkehrsnetzen vorgelegt. Ebenso plante man die Wohnsiedlungen im urbanen Randbereich als Fußgängerstädte (115).
Insgesamt war das Leitbild der aufgelockerten und gegliederten Stadt, wie es Johannes Göderitz in seiner gleichnamigen Publikation propagierte, auch bei den zwölf ausgestellten Planungsmodellen für städtebauliche Siedlungen die Grundlage, die in der abschließenden Sektion "Stadt und Boden" präsentiert wurden (116-125). Unter den Stadtplanern fanden sich hier renommierte Namen wie Erich Kühn, Hubert Hoffmann, Peter Friedrich, Josef Lehmbruck, Walter Schwagenscheidt, Werner Hebebrand und Ernst May.
In der abschließenden Auswertung fragt die Autorin nach dem Realisierungsgrad der vielzähligen städtebaulichen Ansprüche, die im Zuge der Berliner IBA 1957 gestellt wurden. Sie kommt zu dem Fazit, dass zwar mit dem Bau des modernen Hansaviertels der Abschied von der "steinernen Mietskasernenstadt" des 19. Jahrhunderts gelang, die Programmatik einer Zukunftsvision jedoch nicht umgesetzt werden konnte. Dies verlagerte sich auf den Ausstellungsbereich "die stadt von morgen", die einen intensiven "volkserzieherischen Aspekt" zeigte (150). Aber auch hier orientierte man sich an dem bereits teilweise antagonistischen Modell der aufgelösten und durchgrünten Stadt, die von Soziologen bereits in Ansätzen demontiert worden war. Der Paradigmenwechsel zum Leitbild der verdichteten Stadt erfolgte nur wenige Jahre später in den 1960ern. Sandra Wagner-Conzelmann kann verdeutlichen, dass aber eben gerade dieses Modell der gegliederten Stadt zum Sinnbild für eine demokratische Gesellschaft avancierte und dementsprechend ideologisch als Westberliner Gegenbild zur Ostberliner Stalinallee eingesetzt wurde.
Die vorliegende Publikation ist ein überaus wichtiger Beitrag zum Städtebau der 1950er-Jahre, nicht nur Westberlins, sondern darüber hinaus für die urban-gesellschaftlichen Visionen der Nachkriegszeit und einer Ost-West-Konfrontation im entstehenden Kalten Krieg.
Anmerkung:
[1] Gabi-Dolff-Bonekämper / Franziska Schmidt: Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin 1999; Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Das Hansaviertel in Berlin. Bedeutung, Rezeption, Sanierung, Petersberg 2007; Stefanie Schulz / Carl-Georg Schulz: Das Hansaviertel. Ikone der Moderne, Berlin 2007.
Stefanie Lieb