Sabine Nessel u.a. (Hgg.): Wort und Fleisch: Kino zwischen Text und Körper, Berlin: Bertz und Fischer 2008, 158 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-86505-182-0, EUR 19,90
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Die Wende zum Körper ist ein zentrales Thema der Geschichts- und Kulturwissenschaften, und es ist erstaunlich, dass für diese Wende bislang noch keine entsprechende Formel auf Englisch geprägt ist. Es gibt den Begriff "performative turn", aber in ihm taucht das Wort "Körper" nicht auf. Der hier zu besprechende Sammelband widmet sich dem Thema nun im Hinblick auf das Medium Kino, und das mit guten Gründen. "Kino gehört historisch gesehen zu den Jahrmarktsattraktionen", heißt es zu Beginn der Einleitung, "die unmittelbar auf körperlich erfahrbaren Genuss zielen." (7) Gerade diese direkte somatische Adressierung im frühen Film steht heute wieder im Fokus des Interesses, da sie im hyperkinetischen Action- und Special-Effects-Kino der Gegenwart wiederzukehren scheint.
Die besondere körperliche Wirkung des Films hat zu zwei sich in der Forschung diametral gegenüber stehenden Positionen geführt. Die einen sehen in ihr, vor allem mit Bezug auf die so genannten Body Genres (Horrorfilm, pornografischer Film und Melodram), die Gefahr eines Verlusts von Selbstkontrolle. Für diese Position steht am wohl einflussreichsten Steven Shaviro mit seinem Buch The Cinematic Body. [1] Die anderen begreifen die besondere Sinnlichkeit des Kinos dagegen gerade als eine Form der vertieften Anerkennung der Subjektivität des Rezipienten. Denn dieser werde im Kino auch und vor allem in seiner physischen Existenz adressiert. Auf diese Sichtweise hat erstmals Vivian Sobchack mit ihrer Studie The Address of the Eye [2] aufmerksam gemacht. Eine Zusammenfassung beider Positionen ist in dem Beitrag des Berliner Filmwissenschaftlers Thomas Morsch nachzulesen.
Gleichzeitig ist das Medium Film nie ohne Text ausgekommen. Ankündigungen, Zwischentitel und so genannte Filmerzähler finden sich schon in der Stummfilmära. Das Drehbuch bedeutet bis heute die Textgrundlage fast jedes Regisseurs. Hinzu kommt, dass die Filmtheorie das Medium vor allem in Frankreich und im angloamerikanischen Raum seit den sechziger Jahren bis in die 1990er-Jahre als eine Form der Textualität betrachtet hat, die aus dem Zuschauer einen Leser macht. Beide Ansätze, der des Körpers und jener des Texts, stehen in der Forschung nach Auskunft der Herausgeber des Sammelbandes bislang weitgehend unvermittelt nebeneinander. Der Band hat zum Ziel, nach Ansätzen zu suchen, mit denen sich "Text und Körper beim Film aktuell zusammen denken" lassen (7).
So untersucht etwa die in Paris tätige Filmwissenschaftlerin Christa Blümlinger das Verhältnis von Bildstillstand, Bewegung und Narrativität bei Rainer Werner Fassbinder. In detaillierten Bildanalysen zeigt sie, wie Fassbinder etwa durch eine eingefrorene Kameraperspektive gegen die Wahrnehmungskonvention des Filmzuschauers inszeniert, um mit spezifisch filmischen Mitteln narrative Inhalte auf geradezu physiologische Weise zu vermitteln. Mit der Thematik des Körpers im Kontext von Narrativität und Bildlichkeit beschäftigt sich auch, wie schon erwähnt, Thomas Morsch. In seinem Beitrag zur Ästhetik des Schocks gibt er zunächst einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Positionen zum filmischen Körperdiskurs (Linda Williams, Tom Gunning, Steven Shaviro, Vivian Sobchak) und stellt dann im Anschluss an den Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer den heftigen Schrecken als zentrales Element der Moderne in den Mittelpunkt. Von einer bloß physiologischen Schreckreaktion unterscheide sich die gesuchte Ästhetik des Schocks durch die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung. Den gewünschten vertieften Effekt demonstriert er überzeugend am Beispiel des umstrittenen Horrorfilms Audition (1999; Regie: Takeshi Miike). Der Schock sei hier nicht bloß Wirkungskalkül, sondern werde durch künstlerische Strategien der Verschiebung und Verlagerung zu einem strukturellen Aspekt, der als eine disruptive Kraft die Bildlichkeit und die Narrativität des Films durchdringe. Die Grenzen des körperlich Zumutbaren für den Zuschauer werden dabei des Öfteren überschritten. Das ist auch ein Grund dafür, warum der Film umstritten ist. Der Zuschauer finde während des Rezeptionsvorgangs keinen Ausweg, da ihm der Film "die empathische Identifikation mit dem Opfer ebenso wie eine rationale Erklärung der Gewaltakte oder eine allegorische Auflösung der Geschichte verweigert" (24). Er kann höchstens das Kino verlassen. Laut Morsch besteht die kulturhistorische Bedeutung dieses Films darin, dass er in seiner kühlen Machart an eine modernistische Ästhetik des Schreckens anschließt.
Die Frankfurter Filmwissenschaftlerin Sabine Nessel betrachtet vor dem Hintergrund der Filmsemiotik des französischen Theoretikers Christian Metz und des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers Rick Altman einen Ausschnitt aus dem französischen Film La maman et la putain (1973; Regie: Jean Eustache). Ihr erklärtes Ziel ist die Vermittlung der von ihr eingebrachten Texttheorien mit den neueren Ansätzen zum Körper. In dem Filmausschnitt sieht man, wie der Protagonist im Bett gegenüber einem Mädchen sitzt und über ein Frühstück redet. Statt den Akt des Frühstückens zu zeigen, wird das Sprechen darüber inszeniert. Das ist sicherlich eine richtige Beobachtung, aber braucht man dafür die Theorien von Metz und Altman? Zwingender erscheint der Versuch einer Verschränkung von Text- und Körpertheorie in dem Beitrag der Berliner Filmwissenschaftlerin Robin Curtis. Sie beginnt mit John L. Austins berühmter Sprechakttheorie und überträgt Aspekte davon auf die kinetische Situation. Auch wenn man eine gewisse Skepsis gegenüber dieser deduktiven Methode nicht los wird, ist es doch interessant zu sehen, dass sich gerade im postklassischen Kino des Spektakels ähnlich wie in den zuvor untersuchten performativen Sprechäußerungen eine räumliche und zeitliche Überschneidung zwischen dem Hier und Jetzt des Films und dem des Zuschauers ereignet. Der Gewinn für den Rezipienten besteht ihrer Meinung nach darin, dass wir auf diese Weise imaginativ-empathisch die Folgen unserer Situierung als zerbrechlicher Körper in der Welt erkunden, wobei offen bleibt, ob dies den Filmgenuss vertieft oder nicht.
Das Buch fokussiert die Spannung zwischen Text und Körper im Medium Kino und unternimmt den ambitionierten Versuch einer Verschränkung beider Perspektiven. Bei allen qualitativen Unterschieden der Beiträge im Einzelnen ist doch immer der Anspruch erkennbar, den alten Dualismus zwischen Subjekt und Körper, Text und Leiblichkeit zu überwinden und einen neuen integrativen Ansatz zu suchen. Mit dem Paradigma der Einfühlung, das manche Beiträge thematisieren, kündigt sich darüber hinaus schon ein Thema an, dem jüngst von Curtis als Mitherausgeberin ein eigener Band gewidmet wurde. [3] Insgesamt betrachtet ein engagiertes, lesenswertes Buch.
Anmerkungen:
[1] Steven Shaviro: The Cinematic Body. Theory out of Bound. Minneapolis / London 1993.
[2] Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992.
[3] Robin Curtis / Gertrud Koch: Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2009. Vgl. die Rezension von Hubertus Kohle: http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2010_04&review_id=16352
Jennifer Bleek