Kordula Wolf: Troja - Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich (= Europa im Mittelalter; Bd. 13), Berlin: Akademie Verlag 2009, 347 S., ISBN 978-3-05-004580-1, EUR 69,80
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In der anzuzeigenden Berliner Dissertation von 2006 soll der Trojamythos im Europa des 12. Jahrhunderts exemplarisch anhand von drei Texten untersucht werden, der 'Historia regum Britanniae' des Galfried von Monmouth, den 'Gesta Philippi' des Rigord und dem 'Chronicon' des Sicard von Cremona, also einem Text aus England, einem aus Frankreich und einem aus Italien, so dass die Auswahl als repräsentativ gelten darf.
In der Einleitung skizziert Kordula Wolf zunächst den Forschungsstand (14-39) und erläutert dann ihren Begriff von Mythos (40-57), den sie nicht eng auf eine Erzählung von Göttern bezogen, sondern weiter als Teil des kulturellen Gedächtnisses nach Jan Assmann (56ff.) verstanden haben möchte. Trojamythos zielt also "auf ein Kaleidoskop an Perspektiven, das den Mythos in seiner narrativen Struktur wahrnimmt und ein breites Bedeutungsspektrum berücksichtigt" (285). In jeweils einem Kapitel betrachtet Wolf die Trojabezüge der drei von ihr untersuchten Texte innerhalb der Tradition ihres je eigenen Landes (63-148, Variabilität), vor dem zeitgenössischen Hintergrund (149-194, Metamorphosen) und in Bezug auf deren Wirkung (195-284, Relevanz).
Die Trennung in Tradition und zeitgenössischen Hintergrund ist nicht immer glücklich, da sich Wiederholungen ergeben und das Ineinandergreifen gerade von Tradition und zeitgenössischem Kontext zu kurz kommt. Bei der Darstellung des Hintergrundes der Autoren in der Tradition im ersten Kapitel geht Wolf kaum darauf ein, welche Varianten aus welchen Gründen übernommen wurden, sondern beschreibt, welche Versionen in Umlauf waren. Erst im zweiten Kapitel schildert sie die Abweichungen, geht dabei aber zu wenig auf deren Gründe ein. Sie verankert die Autoren im zeitgenössischen Kontext, ohne aus dem Kontrast zur oder der Variation gegenüber der Tradition Rückschlüsse zu ziehen.
Was die Trojatradition insbesondere in England und Frankreich angeht, ist Wolf nicht immer auf dem neuesten Forschungsstand. Die wichtigen Ergebnisse von David Dumville zur 'Historia Brittonum' übersieht sie, wie auch einiges an neuerer Literatur zur normannischen Trojaversion des Dudo; zum 'Liber Historiae Francorum' sollten Richard Gerberdings Publikationen herangezogen werden.[1] Insbesondere die Trojaversionen in Frankreich, die des Fredegar, des 'Liber Historiae Francorum' und die normannischen Varianten bieten gerade bei Verwendung von gleichen Mythemen eine unterschiedliche Ausrichtung im Dienste der jeweiligen causa scribendi. Dieser Aspekt wäre für die Betrachtung des Rigord fruchtbar zu machen gewesen.
Bei der Darstellung des zeitgenössischen Kontextes im zweiten Hauptteil, also bei der Betrachtung ihrer eigentlichen Autoren, sind solche Lücken in der Literaturbasis nicht zu bemerken, was angesichts der Fülle an Literatur gerade über Galfried von Monmouth positiv ins Gewicht fällt. Bei Galfried von Monmouth und Rigord kann Wolf einen gewissen Einfluss Galfrieds auf die Version des Rigord feststellen, dem an der Dynastie der Kapetinger gelegen war, wohingegen Galfried im Kontext der Suche nach neuer Geschichtsinterpretation im anglo-normannischen England zu deuten ist. Der Cremoneser Sicard fällt in Italien durch seine Alleinstellung aus dem Rahmen. In diesem Abschnitt wäre ein grundsätzliches Problem zu diskutieren gewesen, nämlich inwiefern der Darstellungszweck der Quellen und ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Feldern der Geschichtsschreibung ihre Übernahme des Trojamythos beeinflusst hat. Galfried von Monmouth bietet eine - wenn auch nach unseren Begriffen fiktive - Amtsliste der Könige Britanniens, Rigord hingegen kommt es im Rahmen der Taten Philipps II. August auf dessen Dynastie an, Sicard schreibt für seine Vaterstadt. Schon aus dieser Ausrichtung heraus muss die jeweilige Darstellungsabsicht der Autoren unterschiedlich verstanden werden. In der Diskussion des Bildungshintergrundes der Autoren und ihres politischen Kontextes lässt Wolf hingegen keine Wünsche offen.
Der dritte Teil über die Relevanz der Autoren ist aufschlussreich, weil sich als Ergebnis festhalten lässt, dass die Verwendung des Trojamythos allein noch kein Erfolgsrezept bedeutete. Aeneas, Francio und Brutus sind nicht aufgrund heldenhafter Taten "Referenzpersonen" (280) und können mit Arthur oder Karl dem Großen (286) nicht mithalten. In diesem Abschnitt begeht Kordula Wolf indes auch einen methodischen Fehler, weil sie von der Relevanz und Wirkung der Autoren auf die Funktion des Textes schließt: "Gerade mit Blick auf die begrenzte Vermittlung zwischen Text und Publikum kann den trojanischen Herkunftskonstruktionen im 12. Jahrhundert keine nennenswerte Rolle bei Gruppen- und Herrschaftsbildungsprozessen zugeschrieben werden" (279). Soweit wird man sich Wolf noch anschließen können. Dies bedeutet indes nicht, dass die "funktional-politische Bedeutung trojanischer Ursprungserzählungen [...] überschätzt" (287) wird, wenn man nach der Darstellungsabsicht des Autors fragt, die sehr wohl politisch motiviert sein konnte. Wolf spricht den Verfassern die Intention zur Legitimierung und Identitätsstiftung aufgrund mangelnder sichtbarer Instrumentalisierung des Trojamythos durch die Zeitgenossen ab, nennt aber keine alternativen causae scribendi. Die Verankerung im Bildungshintergrund der Zeit, die sie leistet, liefert eben nur die Voraussetzungen für die Übernahme des Trojamythos, aber nicht den Grund.
Die Prämisse, dass die üblicherweise Herkunftserzählungen zugeschriebene Funktion von Identitätsstiftung und Legitimierung in Frage zu stellen sei (60), erweist sich so als Hindernis für eine tiefergehende Analyse. Sicher ist es richtig, die Funktion von Herkunftserzählungen hinterfragen zu wollen, aber Wolf unterscheidet insgesamt nicht deutlich genug zwischen dem Trojamythos als Anregung für die Autoren, der Intention der Autoren bei der Verwendung desselben und der Wirkung dieser Verwendung auf die Zeitgenossen. Die Tatsache, dass alle drei Autoren auf den Trojamythos zurückgegriffen haben, bedeutet noch nicht, dass sie dies alle aus den gleichen Gründen getan haben, auch wenn die Voraussetzungen ähnlich gewesen sein mögen. Es macht sich negativ bemerkbar, dass textkritisch allein die Trojaabschnitte ausführlicher untersucht werden. Den weiterführenden Mustern, Linien und Deutungsschemata, die in der Herkunft angelegt sind, die später in den Texten aufgegriffen werden und die nicht notwendigerweise einen expliziten Trojabezug aufweisen müssen, wird hingegen nicht nachgespürt. Eine Betrachtung der causa scribendi im Kontext der jeweils gewählten Darstellungsform hätte unter Umständen ein ganz anderes Ergebnis zu Tage gefördert.
Anzumahnen ist noch die ärgerliche Ordnung im Quellenverzeichnis. Die Quellen werden - entgegen der sonst üblichen Zitationsweise - nach dem Wortlaut des Titelblatts der jeweiligen Edition zitiert, was zur Folge hat, dass sich etwa Dares Phrygius unter A (als 'Anonimi Historia Troyana Daretis Frigii') findet, Benoit, Fredegar, Matthew Paris und Robert von Torigny subsummiert sind unter C (einsortiert als 'Chronik') und der Archipoeta unter G (als 'Gedichte' alphabetisiert).
Anmerkung:
[1] David Dumville: Historia Brittonum. An Insular History from the Carolingian Age, in: Anton Scharer / Georg Scheibelreiter (Hgg.): Historiographie im frühen Mittelalter (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; 32), München 1994, 406-434; Cassandra Potts: Atque unum ex diversis gentibus populum effecit: Historical tradition and the Norman identity, in: Anglo-Norman Studies 18 (1995), 139-152; Leah Shopkow: The Man from Vermandois. Dudo of St-Quentin and His Patrons, in: Thomas E. Burman / Mark D. Meyerson / Leah Shopkow (eds.): Religion, Text, and Society in Medieval Spain and Northern Europe. Essays in honor of J. H. Hillgarth (= Papers in Mediaeval Studies; 16), Toronto 2002, 302-318; Richard A. Gerberding: The Rise of the Carolingians and the Liber Historiae Francorum, Oxford 1987.
Alheydis Plassmann