Satu Lidman: Zum Spektakel und Abscheu. Schand- und Ehrenstrafen als Mittel öffentlicher Disziplinierung in München um 1600 (= Strafrecht und Rechtsphilosophie in Geschichte und Gegenwart; Bd. 4), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 420 S., ISBN 978-3-631-58123-0, EUR 68,50
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Die Eintragungen von Schand- und Ehrenstrafen im Ratsprotokoll der Stadt München, in den Malefizprotokollen des Unterrichters und in die Gerichtsbücher des Oberrichters zwischen 1596 und 1618 bilden neben den Münchner bzw. bayerischen Normen die Quellengrundlage der von der Universität Joensuu (Finnland, Jukka Korpela) approbierten, auf Deutsch erschienenen kriminalitätsgeschichtlichen Dissertation der finnischen Autorin Satu Lidman.
Nach einem kurzen Forschungsüberblick zur Stadt München, zum Rathaus und zum Münchner Ratsgremium erörtert die Autorin zweitens die Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Strafvollzugs, im Anschluss etwa an stadt- bzw. kriminalitätsgeschichtliche Arbeiten von Reinhard Heydenreuter, Jutta Nowosadtko, Lyndal Roper, Ulinka Rublack, Gerd Schwerhoff oder des immer wieder zitierten, 1901 erschienenen Rudolf Quanter.
Breiten Raum nimmt die Darlegung der Forschungsgeschichte der frühmodernen, chamäleonartigen Ehrcodes ein, wobei die Autorin deutlich zwischen der sozialen, auf die Einzelpersonen zielenden und der juristischen, auf die Rechtsstellung der Person fußende Ehre unterscheidet. Die begrifflich schwer fassbare Ehre als Aktie der Wertigkeit einer Person innerhalb der frühmodernen Gesellschaft und als gleichermaßen defensives wie offensives Kommunikationsmittel der städtischen Streitkultur wird an der zeitgenössischen Rechtsliteratur (etwa am "Schauplatz der Leibes- und Lebensstrafen" Jakob Döplers exemplifiziert) vorgestellt, daneben geraten auch die am Disziplinierungsprozess Beteiligten, die städtischen Diener und Beamten (Stadtrichter, Unterrichter, Bettelrichter, Richter-, Ratsknechte, Henker) genauer in den Blick.
Forschungsleitend für ihre Untersuchung unterscheidet die Autorin, vielleicht nicht ganz geglückt, zwischen ehrmindernden Schand- und zu langfristigen Ehrminderungen führenden Ehrenstrafen. Nur diejenigen "Strafen, die öffentlich und in der Regel vom Henker vollzogen wurden, und die also dem Betroffenen die juristische Ehre nahmen, [waren] Ehrenstrafen. Demzufolge waren Strafen, die den straffällig Gewordenen öffentlich erniedrigten, ihm aber seine bürgerliche Ehre und Rechte nicht nahmen, und also nur seine soziale Ehre schädigten, Schandstrafen" (119).
Das die verschiedenen städtischen Strafformen gut systematisierende Hauptkapitel des Buches wendet sich der minutiösen Darstellung der Münchner Strafpraktiken zu: das ehrmindernde, häufig substitutiv zur Geldstrafe angewandte Gefängnis (Turmhaft, Schergenstube), die nach Schwere des Deliktes differenzierten Schandstrafen (öffentliche Abbitte, öffentliches Anschlagen der Namen, Ausstellung der Person vor der Kirche, Schandsäule, Lasterstein, Kettenstrafe und Strafarbeit) und, als schwerste Sanktionsform, die Ehrenstrafen (Ausstellung auf der Ratsstiege, Prangerstrafe, Rutenzüchtigung, Verstümmelung, Stadtverweis, Zwangsrekrutierung). Während eine kurze Turmhaft wenig Ehrminderungspotential besaß, war die Haft in der Schergenstube schon deutlich ehrmindernder.
Deliktspezifische Auswertungen in Richtung Alkohol/Gewalt, unehrlichem Lebensunterhalt, Sexualdelikte bilden den vierten, umfangreichsten und abschließenden Teil des Buches. Der im Bereich von Sexualdelikten zu schärferem Vorgehen führende Prozess der Konfessionialisierung wird aus der Sicht von unten, in den Schimpfworten der kleinen Leute, vor Augen gestellt. Priesterkonkubinen und damit indirekt das in der Reformation häufig bediente Bild des lüsternen Mönches tauchen in den vor dem Stadtrat gebrachten Injurien ("pfaffenköchin vnd concubin", 349) ebenso wie "Leichtfertigkeit" auf. Der zeitgenössisch sowohl strafmildernd angeführte Alkohol liest sich in den Niedergerichtsakten als Grundlage für verschiedene Delikte (Gotteslästerung, Realinjurien, übles Hausen). Als Fazit: "Die Disziplinierung des 16. Jahrhunderts zielte nicht primär auf die Besserung des Täters, sondern auf die Erhöhung der allgemeinen Moral durch Abschreckung" (384).
Instruktiv und als wichtiger Diskussionsanstoß für weitere Forschungen erweist sich eine Tabelle (373-375), die Delikte und städtische Verurteilungspraxis in den Kontext einer zehnteiligen "Mercalliskala" der Ehrenrührigkeit stellt: Während Trunkenheit, Unzucht, "Leichtfertigkeit" und Mittäterschaft bei Dieberei nur als geringfügig ehrmindernd galt, wurde Ehebruch, Kuppelei (Stufe 8) und Dieberei (Stufe 10) als äußerst ehrenrührig angesehen.
Die finnische Autorin bietet mit ihrer Fallstudie für München wertvolles, auf akribischem Archivstudium basierendes Material, das sich zum Vergleich mit anderen städtischen Kriminalitätsstudien (etwa für Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert) anbietet. Die Autorin wertet ihr Archivmaterial im Kontext der Disziplinierungs- und Akkulturationsthese vor allem hinsichtlich der Sanktionspraxis in München und für bestimmte Delikte aus. Eingriffsmöglichkeiten des Stadtrates jenseits punitiver Sanktionen - etwa das für österreichische Kleinstädte wesentliche Händeschütteln und die Verpönung des Deliktes im Wiederholungsfall als Signet des Ausgleichs durch den Stadtrichter - geraten, wohl aufgrund der Quellenlage, kaum in den Blick.
Ob sich eine von der Autorin vorgeschlagene, strikte Scheidung von Schand- und Ehrenstrafen durchziehen lässt, ist vermutlich auch ein Quellenproblem, weil sich die unmittelbaren Reaktionen der Münchner Zeitgenossen auf den städtischen, vom Stadtrat instrumentalisierten Strafapparat nur fallweise erschließen lassen. Auch wäre im Sinne des spatial turns die Örtlichkeit der Verbal- und Realinjurien, aber auch eine stärkere soziale Verortung der Angeklagten interessant gewesen. Der Marktplatz, das Wirtshaus, die Stadttore etc. als Turnierplätze der Handwerksehre wären noch einiger Untersuchungen wert. Welche Handwerkszweige geraten vor dem Hintergrund welcher Sachlagen ins Visier der Stadtbürokratie? Das erwartbare Gefälle von Norm und Praxis, von herzoglicher Strenge und städtischer, weil auch unterfinanzierter Milde, wird auch am Beispiel der Stadt München um 1600 deutlich. Eine Fallstudie, die zu weiteren Untersuchungen im städtischen Niedergerichtsbereich anregen sollte.
Martin Scheutz