Simone Winkler: "Kindserdrücken". Vom Kirchenrecht zum Landesrecht des Herzogtums Preußen (= Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, XII + 212 S., ISBN 978-3-412-15106-5, EUR 34,90
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Simone Winklers 2005 an der juristischen Fakultät der Universität Hannover abgeschlossene Dissertation erschien 2007 als siebter Band der Buchreihe "Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung". Gegenstand ihrer Untersuchung sind die im Kirchen- und Landesrecht verankerten Bestimmungen zum "Kindserdrücken" (oppressio infantium). Die Verfasserin hat sich zum Ziel gesetzt, "den Ursprung der Rechtsvorschrift so weit wie möglich zurückzuverfolgen, um zu zeigen, dass es sich bei der Ahndung dieses Geschehens nicht nur um ein kurzzeitiges rechtliches Phänomen gehandelt hat" (4-5). Die Edition der Rechtstexte zum Kindserdrücken im Anhang (171-194) ist das größte Verdienst der Studie.
In Preußens erster weltlicher Landesordnung von 1526 wird, wie Simone Winkler darlegt, das Kindserdrücken "als selbständige Norm aufgeführt" (2), wobei sie jedoch "keine abschließende Erklärung" geben kann, weshalb das Kindserdrücken "im Herzogtum eine derart umfassende rechtliche Berücksichtigung fand" (156). Weder in den katholischen noch in den reformierten Gebieten des Reiches wurde das Kindserdrücken als Einzeltatbestand ins Strafrecht aufgenommen, lediglich die sächsischen Kirchenordnungen führen es als "Hauptlaster" an.
Nach einer knappen Einführung (Kapitel 1) wendet sich die Autorin im zweiten und längsten Kapitel (11-102) den kirchlichen Normen zum Kindserdrücken zu. In der Darstellung des kirchlichen Beicht- und Bußverfahrens sowie der allmählichen Etablierung eines kirchlichen Gerichtswesens folgt sie weitgehend der kirchengeschichtlichen Literatur. Im Unterschied zu Strafen hätten die in den Bußbüchern (Paenitentialen) festgelegten Tarifbußen (meist Fasten) die Versöhnung und den Ausgleich der Sünde zum Ziel gehabt. Die Bußbücher differenzierten nach Opfer und Täter/Täterin: das Paenitentiale Floriacense (zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts) sah ausschließlich im Erdrücken eines christlichen, d.h. getauften, Kindes eine Sünde (34); Burchard von Worms verdächtigte in seiner weit verbreiteten Kanonessammlung (frühes 11. Jahrhundert) ausschließlich Frauen der Kindserdrückung, während Regino von Prüm ein Jahrhundert zuvor noch beide Geschlechter ins Visier nahm. Für Simone Winkler steht fest, dass diese Umformulierung "zu einer frauenspezifischen Frage" bewusst erfolgte. Unklar bleibt für sie jedoch, "ob diese Änderung auf einen Wandel in der Einstellung, die Verantwortlichkeit für den Umgang mit Kindern betreffend, beruhte oder ob es sich lediglich um eine Anpassung an die in der Praxis tatsächlich vorkommenden Fälle handelte" (40). Aus der Beobachtung, dass die Mehrzahl der Bußbücher Männer wie Frauen, oft sogar ausdrücklich Ehepaare, als Täterinnen und Täter bezeichnete, schließt die Autorin, "dass sich hinter dem Kindserdrücken wohl weniger ein bewusst vorgenommener Tötungsakt verbarg bzw. dass in solchen Fällen eher ein nachlässiges Verhalten der Eltern vermutet wurde" (61). Mit dem neuen Sündenverständnis des 12./13. Jahrhunderts, welches die Reue als wesentliches Kriterium der Vergebung definierte und in dessen Folge die alten Bußbücher durch Paenitentialsummen ersetzt wurden, sei es zu "keinen einschneidenden Neuerungen" (76) in der Bewertung des Kindserdrückens gekommen. Dies änderte sich mit dem protestantischen Kirchenrecht, dessen Regelungen die Verfasserin für Sachsen und Preußen vergleicht: Gemeinsam ist ihnen, "dass als Täter ausschließlich die Frauen bzw. die Mütter benannt wurden" (83). Das Kindserdrücken war zu einem frauenspezifischen Delikt geworden. Die Ahndung lag in der Kompetenz der kirchlichen und der weltlichen Gerichtsbarkeit, da sich die Tat im Verständnis der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sowohl gegen den Willen Gottes als auch gegen den Willen des Landesherrn richtete. Die preußische Kirchenordnung von 1568 bedrohte das Erdrücken eines Kindes mit öffentlicher Buße (94). Mütter, die ihr Kind in betrunkenem Zustand erdrückt hatten, sollten strenger bestraft werden (98).
Das dritte Kapitel (103-158) befasst sich mit den landesrechtlichen Bestimmungen im Herzogtum Preußen. Simone Winkler bemüht sich, die bereits zu Beginn der Arbeit betonte Differenz zwischen kirchlichem und weltlichem Recht (4) herauszuarbeiten: Ging es bei der öffentlichen Buße darum, "die Bemühungen der Sünder um eine Vergebung Gottes deutlich zu machen", so war es das Ziel der weltlichen Obrigkeit "die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen" (114). Die preußische Landesordnung von 1526 bedrohte das Erdrücken eines Kindes mit einer dem Totschlag entsprechenden Strafe und zusätzlich mit einer Kirchenstrafe. Die Landesordnung von 1540 fasste unter demselben Artikel auch das Verbot der Abtreibung (128). Die Landrechte von 1620, 1685 und 1721 erfassten das Kindserdrücken schließlich als Subkategorie der Tötung naher Verwandter und bedrohten die Tat mit schwerem Gefängnis. 1739 erließ der preußische König eine Einzelverordnung, die das Ins-Bett-Nehmen der Kinder mit Zuchthaus oder harter körperlicher Strafe bedrohte. Simone Winkler resümiert, dass das Kindserdrücken im weltlichen Recht erst Mitte des 18. Jahrhunderts "endgültig zu einem frauenspezifischen Sonderdelikt" (157) wurde. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 beschränkte sich auf das Verbot, Kinder zu sich ins Bett zu nehmen, im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 findet sich das Kindserdrücken nicht mehr.
Einen Exkurs zur 'medizinischen Policey' unternimmt Simone Winkler im kurzen vierten Kapitel (159-164). Sie führt die von Johann Peter Frank, Daniel Metzger und Immanuel Kant empfohlenen Maßnahmen an, um das Erdrücken von Kindern zu verhindern. Metzger sprach sich für eine scharfe Ahndung aus. Johann Peter Frank und Immanuel Kant verwiesen auf ein in Florenz als "arcuccio" bekanntes Gestell, das einen im Bett der Mutter oder Amme liegenden Säugling vor dem Erdrücken schützen sollte (161). Als fünftes Kapitel schließt sich eine knappe Schlussbetrachtung an (165-170).
So verdienstvoll die Edition der Rechtstexte zum Kindserdrücken auch sein mag, aus (kriminalitäts-)historischer Perspektive ist es bedauerlich, dass die Ahndungspraxis durch kirchliche wie weltliche Gerichte in Simone Winklers Studie völlig ausgeblendet bleibt. Mithilfe von Gerichtsquellen hätte sie vielleicht zu differenzierteren Ergebnissen kommen können. Der Einwand, dass "eine sozialgeschichtliche Betrachtung über einen derart langen Zeitraum nicht zu verwirklichen ist und an nicht ausreichend vorhandenem verwertbaren Quellenmaterial scheitern würde" (7), überzeugt nicht. Denn eine Sichtung von Quellen zur Bestrafungspraxis, wie sie etwa Christine Tropper für Kärnten [1] unternommen hat, erfolgte offenbar nicht. Schade ist auch, dass die Autorin sich nicht deutlicher abgrenzt von pauschalierenden Darstellungen und vom linearen Geschichtsbild der von ihr verwendeten Forschungsliteratur. So schreibt sie, dass die evangelische Kirche "aufgrund des anhaltenden Verfalls der Sitten, stärker dazu neigte, zu maßregeln und zu erziehen" (99); oder: "Das angerufene Naturrecht dient noch nicht, wie es später in der Aufklärung war, der Durchsetzung einer neutralen, sondern vielmehr einer christlich-religiösen Ordnung" (132). Sätze wie diese und ein Blick ins Literaturverzeichnis verdeutlichen, dass die Rezeption (geschlechter-)geschichtlicher Studien leider kaum erfolgt ist.
Anmerkung:
[1] Die einschlägige Publikation fehlt im Literaturverzeichnis: Christine Tropper: Kindeserdrückung. Literatur- und Quellenüberblick. Beispiele aus neuen Quellen für Kärnten in der frühen Neuzeit, in: Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin. Vorträge des internationalen Symposiums an der Universität Wien, 9.-11. November 1994, hgg. v. Helmuth Grössing / Sonia Horn / Thomas Aigner, Graz 1996, 195-222.
Susanne Hehenberger