Edgar Hoesch: Kleine Geschichte Finnlands (= Beck'sche Reihe; 1889), München: C.H.Beck 2009, 167 S., ISBN 978-3-406-58455-8, EUR 12,95
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Alvar Aalto, Martti Ahtisaari, Leena Lehtolainen, Aki Kaurismäki, Paavo Nurmi, Mika Häkinen, Ville Valo, Linux, Nokia und PISA - Finnland ist unbestreitbar fest im kulturellen Gedächtnis Europas verankert. Und das bereits seit dem Mittelalter, als Kaufleute, Mönche, Studierende und Wanderhandwerker für einen regen Austausch mit dem restlichen Europa sorgten. Gleichwohl gehört die historische Dimension dieses Landes kaum zum allgemeinen Kulturgut.
Hier schafft die "Kleine Geschichte Finnlands" des Osteuropahistorikers Edgar Hoesch Abhilfe, die in der für prägnante Einführungen bekannten beck'schen Reihe erschienen ist. 'Klein' ist das Unterfangen dabei keineswegs, die Geschichte eines Landes auf wenigen kleinen Seiten darzustellen, das sich den gängigen Mustern der Nationalstaatsgeschichtsschreibung widersetzt. Erst 1917 zu eigenständiger Staatlichkeit gelangt, stellt es den Historiographen vor die besondere Herausforderung, die sprachlichen, kulturellen, institutionellen, politischen, ökonomischen und sozialstrukturellen Entwicklungen dieses Landes aus einer nicht-staatsbezogenen Perspektive aufzurollen.
Hoesch wählt dafür einen raumbezogenen Ansatz aus einer übergeordneten Perspektive des Ostseeraumes: "Durch die Integration des schwedischen, deutschen und russischen Faktors verlagert sich der Akzent von der exklusiven Volksgeschichte zu einer raumbezogenen Landesgeschichte, die als Teil des umfassenden Raumkonzeptes der 'Ostseewelt' verstanden wird." (11)
Die Chronologie wird teilweise zugunsten einer mehrdimensionalen Perspektivierung aufgebrochen, welche die unterschiedlichen Einflüsse und Strukturprozesse deutlich werden lassen, die für die Herausbildung eines regional-kulturellen Zusammengehörigkeit wichtig waren.
Nach der Konturierung der Wanderungs- und Siedlungsgeschichte stellt Hoesch zunächst die Christianisierung in den Mittelpunkt, in der sich bereits die Zwischenstellung der Region zwischen östlichen und westlichen Einflüssen deutlich werden lässt. Die Missions- und Klostergeschichte entfaltet sich in diesem Spannungsfeld zwischen gezielter Missionierung durch westlich-lateinische Mönche im Gefolge der Händler, während eine Durchdringung mit russisch-orthodoxen Glaubensvorstellungen ähnlich intensiv, aber weniger institutionalisiert ablief (29).
In engem Zusammenhang damit steht die Einbindung Finnlands in den schwedischen Herrschaftskontext, dem sich Hoesch im Folgenden zuwendet und als Hintergrundfolie für die Entwicklung der Sozialstruktur, der Grenzziehungen und kulturellen Prägungen bis zum beginnenden 19. Jahrhundert aufruft ohne jedoch die "frontier"-Funktion aus dem Blick zu verlieren.
Eine militärisch und siedlungspolitisch unterstützte Konfrontation und Zurückdrängung des östlichen Einflusses ist erst für das späte Mittelalter und mit dem stärkerem Engagement schwedischer Könige festzustellen, die insbesondere die Bewohner Kareliens stärker an ihr Hoheitsgebiet zu binden trachteten. Dies führte zur Ausbildung erster adeliger Strukturen, denn wie in Schweden entwickelte sich aus den in Königsdiensten stehenden Burgvögten ein Adelsstand, der nicht auf Lehnsstrukturen basierte (40), sondern auf Landschenkungen und Steuerprivilegien. Stärker noch als in Schweden war der Anteil des freibäuerlichen Grundbesitzes (90%), was die finnischen Regionen zu einem prädestinierten Objekt für die Donationspolitik der schwedischen Könige im 16. und 17. Jahrhundert machte. In der so genannte Großmachtzeit, die Hoesch im Anschluss schildert, wandelten sich diese Strukturen zugunsten einer stärker durch Adelsstrukturen geprägten Region, was vor allem im Hinblick auf die russischen Expansionsbestrebungen im beginnenden 18. Jahrhundert immer wichtiger wurde.
Ein eingeschobenes Kapitel widmet sich den "Deutsch-finnischen Gemeinsamkeiten" (63-73), das die Austausch- und Transferprozesse zwischen Deutschen und Finnen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert beleuchtet. Kurz angesprochen, dass diese Kulturkontakte vor dem Hintergrund der deutschen Siedlungsstrukturen im Baltikum zu verstehen sind, bezieht Hoesch hier hauptsächlich auf deutsche Kaufmannsniederlassungen, den Aufstieg deutscher Familien in den schwedisch-finnischen Adelsstrukturen, Wanderhandwerker und Studienreisen finnischer Gelehrter auf den Kontinent. Auch die Reformation als struktur- und kulturbildender Prozess kommt in diesem Kapitel vornehmlich als eine Rezeption lutherischer Schriften zur Sprache.
Während Hoesch die Geschichte bis ins 18. Jahrhundert hinein überwiegend aus einer strukturellen Perspektive der Entwicklung politischer und soziokultureller Aspekte betrachtet und mit den Außenwahrnehmungen durch deutsche und schwedische Einflüsse ergänzt hat, widmet er sich für die verbleibenden Jahrhunderte verstärkt der finnischen Binnenperspektive und Selbstdeutung. Nicht von ungefähr sieht er einen engen Zusammenhang mit der wachsenden Eigenständigkeit seit der so genannten "Freiheitszeit" (1721-1772) unter schwedischer und der so genannten "Autonomiezeit" (1809-1917) unter russischer Oberhoheit. Auch in Finnland finden sich wie in vielen europäischen Gesellschaften verstärkt Bemühungen um die Identifizierung, Sammlung und Bewahrung von 'Volkskultur' in Liedern, Sagen, Märchen, Bräuchen und Sitten - und einer eigenen, ethnisch begründeten Geschichtsschreibung.
Diese Zeit ist ebenso geprägt von dem beiderseitigen Einfluss kontinental- und osteuropäischer Gesellschaften - was Hoesch am Beispiel der Beziehungen zu Russland für die unterschiedliche Interpretation des 19. Jahrhunderts in der Historiographie als "Autonomiezeit" bzw. "Kaiserliches Finnland" sehr deutlich herausarbeitet (87-94). Die Suche nach einem eigenen Weg bestimmte auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die innenpolitischen Spannungen im Hinblick auf kommunistische Agitation in den 1920er- und 30er-Jahren; sie ist im hohen identifikatorischen Stellenwert des "Winterkrieges" von 1940 wie auch im starken außenpolitischen Engagement in den internationalen Institutionen der UNO, OECD oder KSZE erkennbar - und in der dezidierten Hinwendung zur EU, nachdem durch den Fall des "Eisernen Vorhangs" die wichtigsten Wirtschaftspartner und -märkte wegbrachen.
Es ist eine spannende, wechselvolle und sehr kreative Geschichte, die Hoesch für Finnland geschrieben hat - wenngleich sein Konzept einer raumbezogenen Geschichte nicht ganz aufzugehen scheint. Zu sehr schimmert doch der vertraute Wechsel zwischen kulturellen Faktoren und politischer Ereignisgeschichte immer wieder durch. Zu wenig bleiben Fragen beantwortet, auf welchen Traditionen denn im 18. Jahrhundert die Besinnung auf das "Finnische" aufbauen konnte; welche Bedeutung etwa sehr frühen Wahrnehmungsmustern als "Fenni" zukommt oder den politischen Institutionen der Schwedenzeit, die durchaus in deutlicher Abgrenzung zum schwedischen Reich gesehen wurden. [1] Auch die Frage einer finnischen Perspektive auf die Reformation als struktur- und kulturbildenden Prozess und ihrer finnischen "Eigenlogik" bleiben unerörtert [2].
Dies mögen Fragen sein, die sich einer Frühneuzeithistorikerin stellen, sind aber doch auch von methodischer Bedeutung, wo sich doch im Kontext kulturhistorischer Ansätze durchaus noch andere Modelle angeboten hätten als die eingangs erwähnte Gegenüberstellung von "Volks-" und "Landesgeschichte". Nichtsdestotrotz ist Hoesch eine Einführung in eine komplexe, widerspenstige, heterogene Geschichte eines Landes gelungen, die den Leser in einem wunderbaren Erzählfluss durch zwei Jahrtausende Geschichte einer europäischen "frontier" trägt und Lust auf mehr macht!
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu etwa Jonas Nordin: Ett fattigt men fritt folk. Nationell och politisk självbild i Sverige från sen stormaktstid till slutet av frihetstiden, Stockholm 2000.
[2] Vgl. etwa Czaika, Otfried: David Chytræus und die Universität Rostock in ihren Beziehungen zum schwedischen Reich, Helsinki 2002.
Inken Schmidt-Voges