Daniel M. Vyleta: Crime, Jews and News. Vienna 1895-1914 (= Austrian and Habsburg Studies; Vol. 8), New York / Oxford: Berghahn Books 2007, 254 S., ISBN 978-1-84545-181-3, USD 80,00
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Fin-de-siècle Vienna ist ein viel diskutiertes Forschungsthema, welchem sich Daniel M. Vyleta von einer neuen Seite annähert. In seinem Buch untersucht er Gerichtsprozesse, die er auf dem Hintergrund des aufkommenden Massenjournalismus, der Kriminologie bzw. Kriminalistik und den sprachlichen Erzählstrategien auswertet (2). Sein besonderes Interesse liegt dabei auf den Interaktionen der zeitgenössischen Konzeptionen der Kriminalistik, den populären und urbanen Narrativen des Verbrechens und des medialen Antisemitismus (7 f.). Sein kulturgeschichtlicher Ansatz in Bezug auf Kriminalität und Antisemitismus eröffnet dabei eine interessante Perspektive auf ein altes Thema. Besonders Peter Pulzers These des dominanten und 'salonfähig' gewordenen Antisemitismus im fin-de-siècle Vienna setzt er eine genaue Analyse der sozialen Basis und der Inhalte desgleichen entgegen, um ein schärferes Bild nachzuzeichnen. Sein Interesse gilt den wissenschaftlichen Diskursen des Verbrechens, weil gerade diese die Grundlagen für die Etablierung einflussreicher, mitunter antisemitischer Narrative wurden.
Ein Überblick über die zeitgenössischen Verbrechensdiskurse bildet den ersten Schwerpunkt seiner Arbeit. Hier argumentiert er, dass für ein besseres Verständnis der zeitgenössischen Diskurse und Narrative nicht nur die Kriminologie, sondern auch die Kriminalistik berücksichtigt werden muss. Dadurch kann er die sich entwickelnden Narrative, die die physischen Prozesse, die psychologischen Dynamiken sowie das gesamte Umfeld der Gerichtsprozesse zur Be- und Verurteilung des Verbrechens mit einbezogen, besser darstellen und erklären.
Ausgehend von diesen Vorbedingungen greift das dritte Kapitel das Thema der jüdischen Kriminalität auf. Die Ähnlichkeiten der Vorurteile gegenüber Verbrechern und Juden, wie z.B. ein dunkles Aussehen oder eine geheime Sprache usw., sieht er als ein gegebenes Phänomen an, betont aber gleichzeitig, dass eine Verschmelzung dieser beiden Stereotype in der zeitgenössischen Literatur im Allgemeinen und im antisemitischen Diskurs im Besonderen weitgehend fehlte. Zudem weist er darauf hin, dass, obwohl Juden als moderne, effiziente und rationale Verbrecher wahrgenommen wurden, eine biologische oder gar rassische Zuordnung von Verbrechen zu dieser Gruppe nicht vorherrschend war.
Durch die Analyse von verschiedenen Prozessen ('paper trails') zeigt Vyleta die Spezifika des sich spät entwickelnden Wiener Massenjournalismus und seiner Konstruktionsmechanismen auf. Besonders anhand des ersten großen Prozesses von Franziska und Johann Heinrich Klein im Jahre 1904 wird die visuelle Strategie der multi-perspektivischen Darstellung, die die Zeitungen als omnipräsenten Zeugen in dem neuen sozialen Raum des Gerichtsprozesses kreierte, deutlich herausgearbeitet (76-78). Die Beschreibung des Gerichtsaales, die Skizzierung des Verhaltens aller Anwesenden, die Einbeziehung der Biografie des Angeklagten und die Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen werden zu wichtigen Elementen der Prozessberichterstattung und der Etablierung von Narrativen.
Die Verbindung von Juden und Kriminalität in den Medien greift Vyleta im fünften Kapitel auf und befasst sich mit den Themenkomplexen Wirtschafts-, Sexual- und Gewaltverbrechen. In allen drei Bereichen weist er nach, dass je nach politisch-sozialer Ausrichtung der Zeitung die Gerichtsprozesse unterschiedlich wahrgenommen und dokumentiert wurden. Vor allem in der antisemitischen Presse entwickelten sich Narrative, die Verbrechen dank des erweiterten Betrachtungsfeldes per se als jüdisch deklarierten, 'Juden' an sich als Gegner des Justizwesens darstellten oder 'Juden' einen unmoralischen Einfluss auf die Gesellschaft zuschrieben. Zeitungen, wie etwa "Die Reichspost" oder das "Deutsche Volksblatt", kriminalisierten damit generell die jüdische Bevölkerung.
Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung nimmt Vyleta den Hilsner-Prozess 1899/1900 in den Blick. Obwohl er die Einflüsse des deutsch-tschechischen Konflikts auf den Hilsner-Prozess ebenfalls für wichtig erachtet, plädiert er dafür, diesen im Kontext der Sensationslust, der Massenmedien und der zeitgenössischen Popularität der Gerichtsprozesse zu sehen (180). Er argumentiert, dass der Hilsner-Prozess durch bestimmte Zeitungen vor allem in Wien und Prag selbst zu einer Medienkreation wurde. Obwohl die Anklage nicht den Vorwurf des Ritualmordes enthielt, reproduzierten Zeitungen, wie z.B. das Deutsche Volksblatt, Die Reichspost, Vaterland oder Kikeriki, diesen immer wieder. Antisemitische Narrative, die 'die Juden' als 'Wahrheitsverschleierer', als Verschwörer oder als Feinde des Justizwesens charakterisierten, griffen auf alte Muster zurück und bezogen ihre Vorurteile der jüdischen Kriminalität nicht etwa auf die Person Leopold Hilsners, sondern vielmehr auf das gesamte Umfeld dieses Medienereignisses (209 f.).
Die entwickelten antisemitischen Narrative im immer populärer werdenden Genre der Gerichtsreportagen suggerierten eine 'jüdische Kriminalität', wobei die Argumentationen eher einer kulturellen Rationalität als einer biologisch-rassischen Determiniertheit folgten. Trotz der häufigen Benutzung von antisemitischen Narrativen weist Vyleta nach, dass die Berichterstattungen deutliche Unterschiede aufwiesen. Der bisherigen Annahme des weitverbreiteten und akzeptierten Antisemitismus in Wien setzt Vyleta die These entgegen, dass antisemitische Narrative und Vorurteile nur in bestimmten Zeitungen dominierten. Dies will er nicht als eine Rehabilitation des fin-de-siècle Vienna verstanden wissen bzw. damit soll nicht bestritten werden, dass der traditionelle Antisemitismus die Vorbedingung des sich später entwickelnden rassischen Pendants war, sondern dass die antisemitischen Narrative und dessen spezifische Sprache deutlich als solche wahrgenommen und von bestimmten Gruppen als bewusste Strategie benutzt wurden, um sich als Teil einer politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung zu präsentieren (223).
Abschließend ist festzuhalten, dass Vyleta ein gewinnbringender und lesenswerter Beitrag zur Geschichte des fin-de-siècle Vienna gelungen ist. Durch den innovativen Zugang der Kriminologie / Kriminalistik beleuchtet er eine neue Facette eines vermeintlich gut erforschten Themas. Die nur wenigen Kritikpunkte schmälern diesen Ertrag nicht: Die sehr ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Kriminologie bzw. Kriminalistik entwickelt zwar wichtige Ideen in den ersten beiden Kapiteln, wirkt aber im Verhältnis zu den später vorgenommenen Fallstudien sehr dominant. Diese quellengesättigten Fallstudien sind dann teilweise sehr deskriptiv gehalten, was zeitweise die Argumentationsstruktur verdeckt.
Björn Siegel