Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (= Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften), München: Oldenbourg 2009, 292 S., ISBN 978-3-486-58933-7, EUR 39,90
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Während sich kaum ein Mediävist an Urkunden wagen würde, ohne vorher zumindest Ahaver von Brandts "Handwerkszeug" unter dem Kopfkissen hervor gezogen zu haben, werden Archivbestände des Aktenzeitalters allzu oft "ausgewertet" ohne den Versuch, sich eingehender mit ihren quellenkundlichen Eigenarten vertraut zu machen. Das mag nicht zuletzt an den verfügbaren Darstellungen zur Aktenkunde gelegen haben [1], verdienstvollen, aber zumeist doch recht spröden Lehrwerken, die selbst die unmittelbar daran interessierten Archivare wenig zu intensiverem Studium motiviert haben. Michael Hochedlinger macht nun den Versuch, ein didaktisch zeitgemäßes Lehr- und Nachschlagebuch vorzulegen. Es darf wohl vorweggenommen werden, dass das Ergebnis außerordentlich gut gelungen ist.
Nach einer knappen, aber sehr hilfreichen Einführung in die Disziplingeschichte der Aktenkunde fasst Hochedlinger überzeugend, und ohne sich zu sehr auf archivwissenschaftliche Debatten einzulassen, die begrifflichen Grundlagen der archivalischen Aktenkunde zusammen.
Wie bereits der Buchtitel, der sich fast als Hommage an Heinrich Otto Meisners verschiedene Monographien lesen lässt, andeutet, entscheidet sich Hochedlinger im Hauptteil des Buches dafür, das Lehrgebäude des Disziplinbegründers so gut wie unverändert zu übernehmen. Er bleibt bei der Meisnerschen Dreiteilung in genetische Aktenkunde (Entstehungsstufen von Schriftstücken im behördlichen Geschäftsgang), analytische Aktenkunde (Beschreibung anhand eines Katalogs formaler und sprachlicher Merkmale), und systematische Aktenkunde (Typisierung nach dem Zweck der Schriftstücke und dem hierarchischen Verhältnis von Absender und Empfänger). Wenn Hochedlinger dem in konzeptioneller Hinsicht nichts hinzuzufügen hat, so fächert er doch das so abgesteckte Feld in großer begrifflicher Genauigkeit auf und veranschaulicht manches, das bisher für den "working historian" nicht konkret genug war. Auch sprachlich ist dieser Überblick gelungen: Bei aller Knappheit und Prägnanz spart Hochedlinger nicht am falschen Platz und bietet die zeitgenössische Terminologie in großer Bandbreite, ohne zu schnell zu viel unter einen Forschungsbegriff zu subsumieren. Der gegenteiligen Gefahr, beim Eintauchen in die bürokratische Fach- und Kunstsprache der Vergangenheit die sprachliche Distanz zum Gegenstand zu verlieren, trotzt Hochedlinger ebenso souverän, stellenweise sogar humorvoll.
Dass der österreichische Archivar Hochedlinger Meisners Schwerpunkt auf preußischen Kanzleitraditionen durch eine besondere Berücksichtigung der österreichischen ersetzt, überrascht nicht. Die Nutzbarkeit für Historiker der deutschen Staaten und Territorien schränkt er damit nur insofern ein, als die großen historischen Brüche in der Verwaltungs- und Kanzleitradition in der deutschen Geschichte anders gesetzt werden müssten, nämlich um 1800 und mit der Büroreform der 1920er und 1930er Jahre, während es zu den mit dem "System Kielmansegg" verbundenen österreichischen Verwaltungsreformen ab 1903 keine deutsche Entsprechung gibt. Die Griffigkeit und Nachvollziehbarkeit der mit viel historischem Hintergrundwissen und auch einigen Anekdoten angereicherten Darstellung wiegt dieses Ungleichgewicht jedoch auch und gerade aus deutscher Sicht mehr als auf. Auch auf seine militärhistorische Expertise kann Hochedlinger in Exkursen zur Aktenführung bei Militärbehörden sehr gewinnbringend zurückgreifen.
Eben weil sich ihr Gegenstand einem intuitiven Verständnis oft entzieht, liegt der Wert einer aktenkundlichen Darstellung in ihrer typologischen Detailgenauigkeit. Dass sich etwa im Unterschied zwischen den Verben "anzeigen" und "anfügen" in der Formulierung von Behördenreskripten (193 f.) eine klare und konsistente Differenzierung im Status des Empfängers ausdrückt, kann auch der versierteste Historiker mit quellenkundlichen und hermeneutischen Bordmitteln nicht feststellen. Selten hat ein hilfswissenschaftliches Buch die spezifische Hilfsbedürftigkeit seiner Zielgruppe so augenscheinlich demonstriert, und ihr gleichzeitig so unprätentiös abgeholfen. Besonders hervorzuheben ist dabei das reiche, mit Liebe zum Detail ausgesuchte bildliche Beispielmaterial, sowohl in Marginalabbildungen im Buch als auch in Übungsbeispielen als exemplarisch kommentierte PDF-Dateien auf der beigegebenen CD-ROM. Man würde sie gröblich unterschätzen, verstände man die Bilder nur als reine Illustrationen oder optische Auflockerung. Tatsächlich verwirklichen sie erst ein zentrales wissenschaftliches Anliegen der Aktenkunde: das Herausarbeiten der historisch deutbaren und quellenkritisch auswertbaren Zusammenhänge zwischen bürokratischen Ordnungs-, Organisations- und Hierarchiemodellen einerseits und dem graphischen Aufbau von amtlichen Schriftstücken andererseits. Dieser entscheidende Zusammenhang war in der spröden Textform bisheriger Lehrbücher kaum hinreichend zu begreifen. Erst in der Aktenkunde Hochedlingers wird er anschaulich vor Augen geführt und damit in vollem Umfang nutzbar. Dass ohne den Aktenzusammenhang wiedergegebene und so gleichsam aus der Zeit gefallene Aktenvermerke und -verfügungen ("cito cito cito citissime", "Geheim!", "kein Konzept!") in dieser Präsentationsform streckenweise einen recht eigentümlichen Humor erzeugen, mag nur ein feuilletonistischer Nebeneffekt für ironiebegabte Leser sein. Vielleicht zeigt dieser Verfremdungseffekt aber gleichzeitig, welches reiche, wichtige Forschungsfeld sich hier für die sowohl an der visuellen wie an der sprachlichen Konstruktion sozialer Realität interessierte neue Kulturgeschichte auftut. Das Feld, das Cornelia Vismann mit ihrer eklektisch-essayistischen Kulturgeschichte "Akten" [2] abgesteckt hat, scheint bis jetzt kaum beackert worden zu sein, solange es nicht gerade um einen etwas bekannteren Sachbearbeiter der Prager Unfall-Versicherungs-Gesellschaft ging. [3] Für eine "Kulturgeschichte des Amtlichen" fänden sich hier Einstiegspunkte zuhauf, überwänden nur genug kluge Köpfe die psychologischen Hürden, die das Assoziationsfeld "trocken/staubig" um die Welt der Akten herum aufgebaut hat.
Anmerkungen:
[1] Vor allem Heinrich Otto Meisner: Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969; Jürgen Kloosterhuis: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), 465-563; Gerhard Schmid: Akten, in: Friedrich Beck / Eckhart Henning (Hgg.): Die archivalischen Quellen, 4. Aufl., Köln 2004 (1. Aufl. 1994).
[ 2] Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000.
[3] Franz Kafka: Amtliche Schriften, hrsg. von Klaus Hermsdorf / Benno Wagner, Frankfurt a. M. 2004.
Julian Holzapfl