Patrick Lehn: Deutschlandbilder. Historische Schulatlanten zwischen 1871 und 1990. Ein Handbuch, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 596 S., 185 Abb., ISBN 978-3-412-20122-7, EUR 99,90
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Der Verfasser hat mit seiner Heidelberger Dissertation auf dem prosperierenden Terrain der Schulbuchforschung eine bislang brachliegende Parzelle erschlossen und eine auf einem sehr breiten Quellenfundament fußende Überblickdarstellung der Entwicklung deutscher historischer Schulatlanten von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung vorgelegt. Die offenkundige Relevanz des Themas in dem größeren Kontext der Vermittlung von Geschichtsbildern deutet der Verfasser in seiner unprätentiösen Einleitung eher nebenher an, und die Anlehnung an die in den 1960er Jahren in der Geschichtswissenschaft diskutierte "Zeitgeistforschung" (7f.) zeugt nicht von methodischem Innovationseifer, der einem Handbuch allerdings vielleicht auch nicht gut zu Gesicht stünde.
Die Arbeit ist chronologisch gegliedert und untersucht ihren Gegenstand in Orientierung an den politischen Zäsuren in fünf Abschnitten: das Kaiserreich, wobei abweichend von dem üblichen Sprachgebrauch die gesamte Zeit von 1871 bis 1918 als "Wilhelminische Ära" bezeichnet wird; die Weimarer Republik; das Dritte Reich; in einem in seinem Umfang deutlich hinter den übrigen Abschnitten zurückstehenden Übergangskapitel die Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg; schließlich die zwei deutschen Staaten von 1949 bis 1990 mit einem deutlichen, durch die Dürre der Atlantenlandschaft der DDR gerechtfertigten Schwergewicht auf den Entwicklungen in der Bundesrepublik.
Die einzelnen Abschnitte folgen einem einheitlichen Gliederungsmuster: Zunächst werden die bildungspolitischen Vorgaben für den Geschichtsunterricht und die Verfahren der Zulassung von Atlanten als Unterrichtsmittel geschildert und daran anschließend die in den jeweiligen Zeiträumen in den Schulen genutzten Atlanten in Hinblick auf Intentionen, Umfang und Inhalt beschrieben. In einem dritten Schritt werden die "dominierenden Züge des vermittelten Geschichtsbildes" herausgearbeitet. Hierbei konzentriert sich der Verfasser auf diejenigen Karten, die den jeweiligen zeitgeschichtlichen Themen gewidmet sind, da in diesem Bereich die Geschichtsbilder dem stärksten Wandel unterworfen waren. Der "Ausdruck des Zeitgeistes im Kartenbild" wird jeweils am einzelnen Beispiel vorgeführt - für den Marktführer "Putzger", der als einziger Atlas im gesamten Untersuchungszeitraum (in 101 Auflagen) erschien, ist dies sehr plausibel; die jeweils separate Zeitgeistanalyse auch der kurzlebigen und weniger verbreiteten Werke bedingt jedoch eine zu kleinteilige Gliederung und manche Redundanzen.
Beim Gesamtblick auf die vom Verfasser ausgewerteten historischen Schulatlanten fällt für den ersten Teil des Untersuchungszeitraums ein Verdichtungsprozess auf: Im Kaiserreich gab es neben dem vom Verlag Velhagen & Klasing herausgegebenen "Historischen Schulatlas zur alten, mittleren und neuen Geschichte" Friedrich Wilhelm Putzgers, der erstmals 1877 und 1918 bereits in 41. Auflage erschien, 18 andere Atlanten, von denen es immerhin sieben auf zehn oder mehr Auflagen brachten. In der Weimarer Zeit waren es dagegen nur noch sieben Konkurrenzprodukte des Marktführers; hierfür gaben offenkundig weniger schulpolitische Zentralisierungsbemühungen als die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit, die Verleger vor den hohen Kosten einer Atlasproduktion zurückschrecken ließen, den Ausschlag.
Die nationalsozialistische Machtergreifung überstand als einziger historischer Schulatlas wiederum der "Putzger", der eine rasche Selbstgleichschaltung vornahm und mit Erfolg "eine wohlwollende Aufnahme des kartographischen Lehrwerkes seitens der neuen Machthaber" (239) anstrebte, die ihm die Marktführerschaft sicherte. Dass die Zahl der Atlanten im 'Dritten Reich' gegenüber den Weimarer Jahren trotzdem wieder leicht anstieg, lag offenkundig an den schulpolitischen Vorgaben: Eine Richtlinie des Reichsinnenministeriums forderte die stärkere Berücksichtigung der neuesten Geschichte im Unterricht und schuf damit einen Bedarf für Spezialatlanten wie den von dem antisemitischen Publizisten Johann von Leers mit herausgegebenen "Atlas zur deutschen Geschichte der Jahre 1914 bis 1933", der keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zum "Putzger" war und ebenfalls bei Velhagen & Klasing erschien. Eine Monopolstellung vermochte der Verlag allerdings nicht zu erobern; vielmehr drängten noch andere Anbieter auf den Markt, auf dem sie sich mit politischer Anbiederung - zum Beispiel durch die kartographische Konzentration auf Rassen- und Raumgeschichte - und zum Teil mit parteiamtlicher Protektion zu behaupten bemühten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich der Verdichtungsprozess um, und der "Putzger" verlor in der Bundesrepublik die zentrale Position, die er seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts innegehabt hatte. Dies lag nicht etwa daran, dass er durch seine Selbstgleichschaltung nach 1933 diskreditiert gewesen wäre - im Vorwort der ersten Nachkriegsauflage von 1954 wurde durchaus zeittypisch auf jede Selbstkritik verzichtet und beteuert, "alle anerkannten Vorzüge des alten Putzger" erhalten und zugleich die "seit 1945 so grundsätzlich gewandelte gesamtpolitische Lage" berücksichtigen zu wollen (378). Vielmehr eröffneten allgemein der politische Pluralismus und speziell die föderalistische Ordnung der Schulpolitik nun wieder anderen Geschichtsatlanten Marktchancen; hinzu kamen technische Neuerungen, die die Produktionskosten von Kartenwerken nachhaltig senkten. Immerhin ein halbes Dutzend der 20 vom Verfasser untersuchten Atlanten in der Bundesrepublik erreichte mehr als zehn Auflagen - einer, der von 1950 bis 1970 in verschiedenen Verlagen erschienene und von Hans Zeissig herausgegebene "Neue Geschichts- und Kulturatlas", übertraf mit 68 Auflagen die Auflagenzahl des "Putzger" (39 zwischen 1954 und 1990) sogar deutlich.
Die Zulassungsverfahren und die Richtlinienabhängigkeit sorgten insgesamt in den einzelnen Untersuchungsabschnitten für eine beachtliche Einheitlichkeit der kartographischen Darstellungen, jedoch ohne wichtige Varianten ganz auszuschließen, die zum Beispiel im Kaiserreich in der Darstellung Elsass-Lothringens zum Ausdruck kamen oder in der Bundesrepublik in der Gestaltung der ostdeutschen Grenze, die vor allem in den 1970er Jahren sehr unterschiedlich ausfiel - zeitweilig bildeten sich je nach politischer Couleur der Landesregierungen eine sozial- und eine christdemokratische zeitgeschichtliche Kartographie heraus. Unter den zahlreichen interessanten Einzelbefunden, die der Verfasser bei seiner Spurensuche nach dem Zeitgeist in den Kartenbildern zutage fördert, sind nur wenige Überraschungen. Vielmehr folgte die Schulkartographie sehr weitgehend den allgemeinen geschichtspolitischen Trends: Im Kaiserreich untermalte sie den vermeintlichen deutschen Beruf Preußens in kräftigen Farben; in den Weimarer Jahren behinderte sie mit einem verzerrten Bild des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsordnung sowie der Ignorierung der Symbole der Republik eine politische Systemsstabilisierung; im 'Dritten Reich' legitimierte sie die expansive Außenpolitik ebenso wie die nationalsozialistische Rassenpolitik; in den Anfangsjahren der Bundesrepublik schließlich leistete sie mit der Aufrechnung von Heimatvertreibung und Bombenkriegsopfern gegen den Holocaust ihren Beitrag zur Schuldverdrängung.
Dies alles lässt sich in dem Handbuch nicht nur in der Argumentation des Verfassers im Detail nachvollziehen, sondern auch visuell erfahren, da ihm ein sehr umfangreicher farbiger Kartenteil beigegeben ist. Die Redaktion des Textes erfolgte leider nicht mit der gleichen Sorgfalt wie die hochwertige Reproduktion der Karten; störend sind insbesondere die recht zahlreichen Silbentrennungsfehler.
Frank Engehausen