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Sergej S. Sluč (Hg.): SSSR, Vostočnaja Evropa i Vtoraja mirovaja vojna 1939-1941. Diskussii, kommentarii, razmyšlenija. [Die UdSSR, Osteuropa und der Zweite Weltkrieg 1939-1941. Diskussionen, Kommentare, Überlegungen], Moskau: Nauka 2007, 487 S., ISBN 978-5-02-035514-9
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Rezension von:
Viktor Knoll
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Viktor Knoll: Rezension von: Sergej S. Sluč (Hg.): SSSR, Vostočnaja Evropa i Vtoraja mirovaja vojna 1939-1941. Diskussii, kommentarii, razmyšlenija. [Die UdSSR, Osteuropa und der Zweite Weltkrieg 1939-1941. Diskussionen, Kommentare, Überlegungen], Moskau: Nauka 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/16232.html


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Sergej S. Sluč (Hg.): SSSR, Vostočnaja Evropa i Vtoraja mirovaja vojna 1939-1941. Diskussii, kommentarii, razmyšlenija

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Über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten war die Geschichte der sowjetischen Außenpolitik am Vorabend und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in der Historiografie der UdSSR und der mit ihr verbündeten Länder Gegenstand grober Manipulation und Tabuisierung. An strikte politisch-ideologische Vorgaben gebunden, zeichnete die offizielle marxistische Geschichtsschreibung ein Bild der Ereignisse, das keinerlei Zweifel an der Aufrichtigkeit der sowjetischen Bemühungen um eine "Eindämmung der faschistischen Aggressionsgefahr" zuließ und die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes als einen geradezu verzweifelten Akt der Selbstverteidigung rechtfertigte. Unbequeme Tatbestände wie der Einmarsch der Roten Armee in Polen, die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages, die Inkorporation der baltischen Staaten, der sowjetisch-finnische Winterkrieg sowie die Besetzung Bessarabiens und der Nordbukowina, die von weitaus weniger friedvollen Absichten der Moskauer Führung zeugten, wurden kurzerhand ausgeblendet. Praktisch geriet damit der gesamte Zeitabschnitt vom September 1939 bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion zu einem historiografischen Sperrgebiet.

Nicht nur im Westen stieß diese selektive, legitimatorischen Zwecken dienende Rezeptionspraxis auf Ablehnung und Unverständnis. Auch auf der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" gab es nicht wenige Fachhistoriker, die der amtlichen Geschichtspropaganda durchaus kritisch gegenüberstanden. Bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre verhinderten jedoch Zensur und politische Reglementierung eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen totalitären Vergangenheit. Möglichkeiten für eine kritische Neubewertung der sowjetischen Diplomatiegeschichte eröffneten sich erst im Zuge der Gorbačëv'schen Perestroika. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der zunehmenden Sezessionsbestrebungen in den baltischen Republiken rückte dabei zunächst die Frage nach den rechtlichen Grundlagen des Hitler-Stalin-Paktes in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die damit verbundene historiografische Debatte verließ allerdings sehr schnell den vorgegebenen Rahmen und mündete schließlich in eine umfassende Kontroverse über Ziele, Motive und Methoden der Stalin'schen Außenpolitik im Vorfeld des "Großen Vaterländischen Krieges".

Der vorliegende Band des Moskauer Historikers Sergej Sluč analysiert und dokumentiert Verlauf und Ergebnisse dieser Kontroverse, die in der russischen Geschichtsschreibung bis heute nachwirkt. Damit knüpft der Autor unmittelbar an Forschungen von Jan Lipinsky an, der im Rahmen seiner 2004 veröffentlichten verdienstvollen Studie zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt [1] bereits auf wesentliche Aspekte des sowjetischen "Historikerstreits" eingegangen ist.

Auch Sluč widmet in seiner Untersuchung der Protokolldebatte breiten Raum. Anders als Lipinsky beschränkt er sich dabei bewusst auf die Evaluierung des akademischen Teils der Kontroverse, deren thematischen Bezugsrahmen er gleichwohl auf den gesamten Komplex der Stalin'schen Europapolitik in den späten 30er und frühen 40er Jahren ausdehnt. Dies ermöglicht dem Autor nicht nur eine schärfere Konturierung der zentralen Konfliktfelder der historiografischen Auseinandersetzungen, sondern gestattet es auch, die innere Dynamik des schwierigen Prozesses der Loslösung der sowjetischen Geschichtsschreibung von parteipolitischer Bevormundung zu veranschaulichen. Dabei geht es Sluč jedoch nicht primär um die Klärung von Verantwortlichkeiten für das vermeintliche oder tatsächliche moralisch-ethische Versagen der Historikerzunft. Vielmehr nimmt er die Rekonstruktion der Debatte zum Anlass, um mit Blick auf den aktuellen Zustand der russischen Forschung zu diesem Thema nach den bleibenden Effekten der durch die Perestroika ausgelösten historiografischen Entwicklungen zu fragen.

Dass der Autor der vorliegenden Arbeit bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zu Schlussfolgerungen gelangt, die von den Befunden seines deutschen Kollegen Lipinsky abweichen, liegt zu einem erheblichen Teil an der Unterschiedlichkeit der Bewertungskriterien, mit denen die beiden Untersuchungen operieren. Während Lipinsky den Kenntnisstand der westlichen Forschung zum Maßstab für die Evaluierung der Protokolldebatte erhebt, ist für Sluč neben dem empirischen Erkenntnisgewinn auch die wissenschaftspolitische Ausstrahlung der Kontroverse von Belang. Konsequenzen hat dies nicht nur für die allgemeine Bewertung der Ergebnisse des sowjetischen "Historikerstreits", dem Sluč zu Recht eine beträchtliche emanzipatorische Wirkung bescheinigt, sondern auch für die Beurteilung der individuellen Leistung der Akteure des Geschehens. So ist es kein Zufall, dass Sluč seine Arbeit dem Andenken des langjährigen Direktors des Instituts für Slawenkunde und Balkanistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR V.K. Volkov widmet, eines Fachkollegen also, den Lipinsky eher im Lager der "Traditionalisten" verortet. Es ist nicht der Grad der Übereinstimmung mit den Ansichten des Autors, der hier über die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Fraktion entscheidet. Wohl aber ist es der konkrete Beitrag, den der einzelne Historiker zur Verwissenschaftlichung des Diskurses und zur Herausbildung einer pluralen Streitkultur beigesteuert hat. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine Würdigung V.K. Volkovs, unter dessen Leitung das Slawenkunde-Institut zu einem wichtigen Vorposten der Perestroika in der sowjetischen Geschichtswissenschaft avancierte, mehr als gerechtfertigt.

Die skizzierte Zielsetzung des Autors bestimmt auch die Struktur der vorliegenden Arbeit. Einleitend legt Sluč seine Sicht auf die Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik in den Jahren 1939 bis 1941 dar, als deren wichtigsten Schauplatz er die deutsch-sowjetischen Beziehungen benennt. Für den Autor steht fest, dass die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes keine spontane Entscheidung der Moskauer Führung, sondern das Ergebnis langjähriger und zielgerichteter Bemühungen Stalins um einen Ausgleich mit Hitler war. Dabei habe sich Stalin sowohl von sicherheitspolitischen Erwägungen als auch von der Erwartung leiten lassen, auf der Grundlage einer strategischen Partnerschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu einer Erweiterung des sowjetischen Herrschafts- und Einflussbereiches zu gelangen (16). Hitler ging jedoch erst dann auf die sowjetischen Offerten ein, als er Rückendeckung für den Überfall auf Polen benötigte. Der Abschluss der völkerrechtswidrigen Vereinbarungen vom 23. August 1939 besiegelte das Schicksal des polnischen Staates und beförderte damit den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wobei sich die UdSSR durch ihren Truppeneinmarsch am 17. September 1939 de facto als eine Krieg führende Partei auf Seiten des Aggressors positionierte (19). Während sich Stalin in den folgenden Monaten auf die machtpolitische "Erschließung" der ihm durch die Verträge vom August und September 1939 zugestandenen Interessenssphäre konzentrierte, nutzte Hitler die Zusammenarbeit mit der UdSSR konsequent zur Stärkung des deutschen Kriegspotenzials. In völliger Verkennung der tatsächlichen Absichten seines "Partners" hielt Moskau selbst dann noch an der Kooperation mit dem "Dritten Reich" fest, als im Verlauf der Berliner Verhandlungen im November 1940 die weitgehende Unvereinbarkeit der beiderseitigen Interessen offenbar wurde. Durch seine realitätsfremde Politik, resümiert Sluč, habe Stalin wesentlich zur Stärkung des künftigen Kriegsgegners beigetragen und die UdSSR in der Stunde der größten Not ihrer natürlichen Verbündeten beraubt.

In dem anschließenden Beitrag wendet sich der Autor der Rekonstruktion und Analyse jener Prozesse zu, die die Entwicklung der sowjetischen Historiografie in den Jahren der Perestroika prägten. Wie Lipinsky hebt auch Sluč hervor, dass der Geist der Reformen in diesem Bereich der historischen Forschung erst relativ spät Einzug gehalten hat. Obgleich die programmatische Rede Gorbačëvs auf dem Januarplenum des ZK der KPdSU bereits 1987 Freiräume für eine kritische Neubewertung der sowjetischen Geschichte geschaffen hatte, blieb die Sphäre der Außenpolitik vorerst außerhalb des akademischen Diskurses. Verantwortlich hierfür waren, wie der Autor zeigt, sowohl zunftinterne Widerstände als auch der höchst inkonsequente Öffnungskurs der politischen Führung, von der durchaus widersprüchliche "Signale" ausgingen (44-48).

Eine Trendwende begann sich 1988 abzuzeichnen. Diese äußerte sich zunächst in einer deutlichen Zunahme der Zahl von Publikationen zur Geschichte der sowjetischen Außenpolitik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Der überwiegende Teil dieser Arbeiten folgte jedoch noch immer der bis dahin gültigen Interpretationslinie, wonach es für die UdSSR keine Alternative zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt gegeben habe.

Einen qualitativen Durchbruch brachte erst das darauffolgende Jahr (70). Die nun einsetzende Auseinandersetzung um die Bewertung der Ereignisse des Jahres 1939 führte erstmals zu einem offenen massiven Schlagabtausch unter den Fachhistorikern. Dabei sah sich die Fraktion der "Revisionisten", zu deren exponiertesten Vertretern neben M.I. Semirjaga und V.M. Kuliš auch der Autor des vorliegenden Bandes gehörte, heftigen Attacken seitens "traditionalistischer" Historiker wie L.A. Bezymenskij, A.S. Orlov, O.A. Ržeševskij und V.Ja. Sipols ausgesetzt, die in V.M. Falin ihren prominentesten Fürsprecher fanden.

Ungeachtet der anhaltenden Gegenwehr der stalinistisch geprägten Geschichtsschreibung gewann die Debatte 1990 weiter an Dynamik und inhaltlicher Tiefe. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die öffentliche Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes durch den sowjetischen Volkskongress im Dezember 1989. Zudem erhielten die Historiker die Möglichkeit, sich nicht nur auf westliche, sondern auch auf eigene neue Dokumenteneditionen zu stützen. Dies war umso wichtiger, als der Zugang zu den Archiven noch immer erheblichen Beschränkungen unterlag (108).

Standen in den beiden davorliegenden Jahren vor allem die Vorgeschichte und die Nachwirkungen des Nichtangriffspaktes im Mittelpunkt der Kontroverse, so galt das Interesse der historischen Forschung im letzten Jahr der Sowjetunion vor allem den deutsch-sowjetischen Beziehungen am Vorabend des "Großen Vaterländischen Krieges". Zu den markantesten Entwicklungen dieses Jahres zählt Sluč die spürbare Verlangsamung des Reformprozesses in der sowjetischen Historiografie und eine deutliche Zunahme der Tendenzen zur Konservierung des traditionellen Geschichtsbildes. Seinen Niederschlag fand dies nicht zuletzt in der Publikationspolitik einiger Verlage und Zeitschriften, die die Herausgabe kritischer Manuskripte behinderten (171).

Den Ertrag des sowjetischen "Historikerstreits" evaluierend, gelangt der Autor zu einem insgesamt positiven Urteil. Die Debatte habe nicht nur zu einer grundlegenden Neubewertung zahlreicher historischer Tatbestände geführt, sondern auch alternativen konzeptionellen Ansätzen zum Durchbruch verholfen, die den Erkenntnishorizont der sowjetischen/russischen Forschung beträchtlich erweiterten (172). Diese Aussage untermauert Sluč, indem er eine beeindruckende Liste von Befunden anführt, die die Radikalität des Bruches mit den jahrzehntelang tradierten Mythen der stalinistisch geprägten Geschichtsschreibung veranschaulicht.

Einen lebendigen Eindruck von der Widersprüchlichkeit des Reformprozesses in der sowjetischen/russischen Geschichtswissenschaft vermittelt der dokumentarische Teil des Bandes. Er ist in zwei chronologisch geordnete Blöcke untergliedert und enthält die Materialien von insgesamt sechs "Runden Tischen", die in den Jahren 1989 bis 1990 und 2000 bis 2002 am Institut für Slawenkunde der Akademie der Wissenschaften der UdSSR/Russlands zu dem hier interessierenden Themenkomplex veranstaltet wurden. Grundlage der Publikation bilden die in der Zeitschrift "Sovetskoe slavjanovedenie" (später "Slavjanovedenie") veröffentlichten ausführlichen Tagungsberichte, deren Wortlaut der Herausgeber ohne nennenswerte Veränderungen übernimmt.

Durch die Erweiterung des zeitlichen Rahmens der Dokumentation auf die frühen 2000er Jahre versetzt Sluč den Betrachter in die Lage, die Kontroversen der Perestroika-Ära in den Kontext der nachfolgenden historiografischen Entwicklungen einzubinden. Stellt man die beiden Diskussionsrunden vergleichend gegenüber, so fällt insbesondere das deutlich höhere wissenschaftliche Niveau der späten "Runden Tische" auf. Ging es in den früheren Debatten zunächst primär um die Rekonstruktion bis dahin tabuisierter historischer Abläufe, so wurde in der Folgezeit vor allem die unterschiedliche Zuordnung und Interpretation inzwischen allgemein anerkannter Tatbestände zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Umstritten blieben dabei in erster Linie die handlungsleitenden Motive der Stalin'schen Führung, ein Problem, das angesichts der unverändert unzureichenden Quellenlage bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. Als Beleg für eine fortschreitende Professionalisierung des Diskurses kann ferner die zunehmende Differenzierung in den Positionen und Argumentationsansätzen der Diskussionsteilnehmer gelten, die sich in ihrer Beweisführung vermehrt auf westliche und neu erschlossene sowjetische Quellen stützten. Zu den anhaltenden Defiziten sind demgegenüber die mangelnde quellenkritische Aufbereitung und die mitunter ausgesprochen tendenziöse Auslegung des präsentierten Materials sowie der fortwährend hohe Politisierungsgrad der Debatten zu zählen. Mehr noch als die professionellen Unzulänglichkeiten stimmt die in der jüngeren russischen Forschung generell festzustellende Tendenz skeptisch, althergebrachte Thesen der stalinistischen Geschichtsschreibung unter "patriotischen" Vorzeichen zu reanimieren. Dies gilt in besonderer Weise für die historische Einordnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, dessen "defensiver" Charakter neuerdings wieder verstärkte Betonung findet. Nicht ohne Grund sieht Sluč daher Anzeichen für eine schleichende Reideologisierung der russischen Geschichtswissenschaft (187). Solange die politische Führung des Landes der Kultivierung eines "positiven" Geschichtsbildes größere Bedeutung beimisst als der Öffnung der Archive, stellt der Autor fest, ist eine weitere Verschärfung der restaurativen Tendenzen zu befürchten.

Die vorliegende Arbeit, die mit einem umfangreichen Verzeichnis der in Russland im Zeitraum zwischen 1992 und 2006 erschienenen Publikationen zum Thema schließt, beeindruckt durch ihren sensiblen und zugleich schonungslos offenen Umgang mit einem Kapitel der sowjetischen Vergangenheit, die der Autor nicht nur als passiver Zeitzeuge, sondern als aktiver Teilnehmer der Ereignisse erlebte. Sie zeichnet den mühsamen Prozess der intellektuellen Selbstfindung der sowjetischen/russischen Geschichtswissenschaft nach und schärft den Blick für die Probleme, vor denen die russischen Zunftkollegen heute noch stehen.


Anmerkung:

[1] Jan Lipinsky: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt am Main u.a. 2004.

Viktor Knoll