Gerhard Fouquet (Hg.): Die Reise eines niederadeligen Anonymus ins Heilige Land im Jahre 1494 (= Kieler Werkstücke. Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Bd. 5), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2007, 311 S., 7 Abb., ISBN 978-3-631-56777-7, EUR 48,00
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Mittelalterliche Reise- und Pilgerberichte haben in den vergangenen Jahren in der Forschung verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Dabei werden sie bei Weitem nicht mehr nur als Quelle gelesen, die Auskunft über Gestalt und Struktur (außer-)europäischer Regionen geben. Vielmehr können unter interdisziplinärem Zugriff ganz verschiedene kulturhistorische Fragen an die Texte herangetragen werden. So lassen sich Aspekte der mittelalterlichen Mobilität, Vorstellungen von Zeit und Raum oder die Begegnung mit dem Fremden ebenso erforschen wie die in den Berichten zum Ausdruck kommenden Selbstbilder, die hinsichtlich der Heilig-Land-Wallfahrt vor allem die zu zeigende Frömmigkeit und standesgemäße Bewährung auf der Reise sowie die über die Abgrenzung von anderen Glaubensgemeinschaften gesteuerten Identitätskonstruktionen beinhalten.
Gerade auf der Basis der zahlreich überlieferten spätmittelalterlichen Jerusalemberichte bietet es sich an, diese vielfältigen Einblicke in die mittelalterliche Vorstellungs- und Lebenswelt auch in der Hochschullehre einzusetzen. Welche Früchte aus einem solchen Seminar erwachsen können, zeigt der zu rezensierende Band, der aus einem an der Universität Kiel abgehaltenen Lektürekurs hervorgegangen ist. Er umfasst die von einer studentischen Gruppe um Prof. Dr. Gerhard Fouquet erarbeitete Edition der von einem niederadligen Anonymus verfassten Beschreibung einer Jerusalemwallfahrt aus dem Jahr 1494. Hiermit wird insofern eine Forschungslücke geschlossen, als von den insgesamt sechs bekannten Abschriften des sich durch viele Detailbeobachtungen auszeichnenden Berichts bislang nur ein fragmentarisch überliefertes Manuskript in edierter Form vorlag. [1] Die nun erarbeitete Ausgabe ermöglicht erstmalig eine Lektüre des gesamten Textes, der über ein tabellarisches Itinerar der Reise, ein Verzeichnis heilsgeschichtlicher Personen und ein Register erschlossen werden kann.
Die in frühneuhochdeutscher Sprache verfasste Reisebeschreibung wird durch mehrere der Edition vorangestellte Beiträge der Mitarbeiter auch inhaltlich erschlossen. Die Autorinnen und Autoren widmen sich hierbei verschiedenen Aspekten der Heilig-Land-Fahrt wie der ausführlichen Beschreibung Venedigs, dem Ausgangspunkt der Schiffsreise. Beleuchtet werden die logistischen Herausforderungen der infolge der Osmanischen Expansion gefährlichen Mittelmeerpassage, die Frömmigkeitsvorstellungen der Pilger sowie die konfliktreiche Kulturbegegnung mit der muslimischen Bevölkerung. Zur Einordnung des Textes werden hierbei weitere spätmittelalterliche Jerusalemberichte, darunter auch die parallele Beschreibung des ebenfalls 1494 gereisten Mailänder Kanonikers Pietro Casola, herangezogen.
Hinzuweisen ist auf die beiden einführenden Aufsätze von Gerhard Fouquet und Tobias Delfs. Fouquet betont zum einen den Nutzen der Jerusalemfahrt für die Repräsentation einer höfisch-ritterlichen Lebensform (19-35). Die adligen Pilger konnten durch die aufwendige und teure Reise nicht nur ihren wirtschaftlichen Status, sondern auch ihre Ehre und Tapferkeit dokumentieren, die durch den Ritterschlag am Heiligen Grab ihren besonderen Lohn fand. Zum anderen eröffnet Fouquet am Beispiel der Beschreibung eines auf Kreta erlebten Erdbebens die Möglichkeit einer Untersuchung der Reiseberichte auf die Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen.
Delfs geht in seinem Aufsatz der Verfasserfrage und der komplexen Überlieferungslage nach (37-55). Überzeugend weist er die bis in die jüngere Forschung reichenden Zuschreibungen an Ludwig von Greifenstein und Rudolf von Werdenberg zurück. Doch auch auf Reinhard von Bemelberg und Konrad von Parsberg, die in jeweils zwei Manuskripten als Verfasser genannt werden, dürfte der Bericht nicht zurückgehen. Delfs kann herausarbeiten, dass diese vier Abschriften erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts von dem Münchner Schreiber Christoph Tegernseer verfasst wurden. Die dabei wohl von Tegernseer vorgenommenen unterschiedlichen Zuschreibungen an Bemelberg und Parsberg sind womöglich als das Ergebnis einer Auftragsarbeit zu sehen, welche die Memoria an die Jerusalemfahrt eines Familienmitgliedes in dem jeweiligen Adelsgeschlecht bewahren sollte. Die zwei nur fragmentarisch überlieferten Manuskripte enthalten demgegenüber keinerlei Angaben oder Hinweise auf den Autor.
An den von Delfs konstatierten Unterschieden in den Abschriften muss jedoch auch die Kritik an der den zweiten Teil des Bandes umfassenden Edition einsetzen (133-253). Ohne nähere Begründung bildet ein heute in der Universitätsbibliothek Gießen (Hs. 165) verwahrtes Exemplar die Textgrundlage. Für eine Handschriftenbeschreibung muss der Leser auf die Dortmunder Dissertation von Wilhelm Fricke zurückgreifen. [2] Die Abweichungen und Varianten besonders zu den fragmentarischen Abschriften, die gemäß Delfs dem verlorenen Original zeitlich teils näher stehen könnten (52), werden in der Ausgabe nicht gekennzeichnet. Auf die Editionskriterien wird lediglich in einer Fußnote hingewiesen (16). Dabei werden über die Interpunktion sowie die Groß- und Kleinschreibung hinaus auch hinsichtlich der Zusammen- und Getrenntschreibung stillschweigend Anpassungen an die modernen Lesegewohnheiten vorgenommen.
Wie bereits von anderer Seite angemerkt wurde, weist der knapp gehaltene Anmerkungsapparat einige Fehler auf. [3] Auch bei dem Verzeichnis heilsgeschichtlicher Personen wäre eine stärkere inhaltliche Verknüpfung mit dem anonymen Pilgerbericht wünschenswert gewesen. So wird in dem Artikel über die heilige Lucia lediglich der Überlieferungsstrang mitgeteilt, nach dem ihre Reliquien bereits seit dem 10. Jahrhundert in Metz verehrt würden (288f.). Damit bleibt aber unklar, warum der anonyme Verfasser den ungeteilten Körper der Heiligen, deren "Anngesicht" und "heilige Brüst gar beraitt unnd schöenn" zu erkennen gewesen seien (144), in Venedig bewundern konnte. Hier wäre die Information nötig gewesen, dass der Leichnam der venezianischen Tradition zufolge im Jahre 1204 nach der Plünderung Konstantinopels in die Lagunenstadt überführt worden war. Aus diesen Gründen ist die vorliegende Textausgabe eher als Zwischenschritt auf einer noch zu erarbeitenden kritischen Edition zu betrachten, die allerdings auf äußerst engagierte Vorarbeiten der Kieler Studentinnen und Studenten aufbauen kann.
Anmerkungen:
[1] Eine Pilgerfahrt in das Heilige Land im Jahre 1494, hg. von Theodor Schön, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 13 (1892), 435-469.
[2] Wilhelm Fricke: Die Itinerarien des Konrad von Parsberg, des Reinhard von Bemelburg und ihrer Mitreisenden über eine Pilgerfahrt nach Jerusalem im Jahre 1494. Zugleich ein Beitrag zur Erforschung von Fremdenfurcht und Fremdenfeindschaft im Spätmittelalter, Diss. Univ. Dortmund, Bochum 2000.
[3] Gritje Hartmann: Rezension zu: Die Reise eines niederadeligen Anonymus ins Heilige Land im Jahre 1494, hg. von Gerhard Fouquet, Frankfurt am Main 2007, in: H-Soz-u-Kult, 24.06.2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-195.
Stefan Schröder