Gabriele Köster: Künstler und ihre Brüder. Maler, Bildhauer und Architekten in den venezianischen Scuole Grandi (bis ca. 1600) (= Berliner Schriften zur Kunst; Bd. XXII), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008, 641 S., ISBN 978-3-7861-2548-8, EUR 89,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Roberto Contini / Francesco Solinas (a cura di): Artemisia Gentileschi. Storia di una passione. Catalogo della mostra (Milano, 22 settembre 2011 - 30 gennaio 2012), Mailand: Federico Motta Editore 2011
Giovanni Carlo Frederico Villa (a cura di): Lorenzo Lotto, Cinisello Balsamo: Silvana Editoriale 2011
Sylvia Ferino-Pagden (Hg.): Giorgione entmythisiert, Turnhout: Brepols 2008
Gabriele Köster (Hg.): Der Magdeburger Reiter. Bestandsaufnahme - Restaurierung - Forschung, Regensburg: Schnell & Steiner 2017
Gabriele Köster / Christina Link / Heiner Lück (Hgg.): Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung "Faszination Stadt", Dresden: Sandstein Verlag 2018
Stephan Freund / Gabriele Köster / Matthias Puhle (Hgg.): Des Kaisers letzte Reise. Höhepunkte und Ende der Herrschaft Ottos des Großen 973 und sein (Weiter-)Leben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2023
Den venezianischen Scuole und ihrer künstlerischen Ausstattung sind schon viele, größtenteils monografische Studien gewidmet worden. Die Sozialgeschichte der in Venedig tätigen Künstler gerade im Zusammenhang mit der Prosperität der Bruderschaften in der frühen Neuzeit jedoch ist bislang allenfalls in Ansätzen geschrieben worden. Eine Lücke in diesem Forschungsgebiet, das zwischen den Disziplinen Geschichte und Kunstgeschichte oszilliert, schließt die umfangreiche Arbeit von Gabriele Köster, deren Buch erstmals in einem groß angelegten prosopografischen Anhang die Quellen zu unterschiedlichsten Künstlern, allesamt Mitglieder in einer der Scuole grandi Venedigs, der Forschung zugänglich macht. Die Autorin betrachtet dabei den Zeitraum von der Mitte des 15. Jahrhunderts, in der sich die Bezeichnung der Scuole grandi durchsetzt, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, das zum einen mit dem Tod der drei berühmtesten Künstler Tizian, Tintoretto und Veronese das Ende des venezianischen 'goldenen Zeitalters' und zum anderen für die Bruderschaften aufgrund des wachsenden Einflusses des Protestantismus und der Katholischen Reform eine Neuorientierung bedeutete.
Die Bruderschaften sind als Schnittstellen politischer, sozialer und religiöser Interessen zu verstehen. Insbesondere die Scuole grandi, die anders als die Scuole piccole direkt einem gesonderten staatlichen Kontrollgremium unterstellt waren, sind als Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos der Republik Venedig verankert, nach deren Verständnis der Staat Vorrang vor dem individuellen Ansehen hat und der Einzelne insbesondere in seinem Wirken für die Republik zählt. Die Scuole übernahmen soziale Aufgaben wie die der Alten- und Armenfürsorge und stützten dadurch das öffentliche Ansehen der Republik. "Die Bruderschaften wurden so zum festen Bestandteil des 'Mythos Venedig', in dem die Republik als Gemeinwesen ohne soziale Spannungen und Konflikte erschien" (15). In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts galten die vier wichtigsten Scuole Santa Maria della Carità, Santa Maria della Misericordia, San Giovanni Evangelista und San Marco "als die vier Säulen der glorreichen Republik" (16), später kamen noch die Bruderschaften von San Rocco und San Teodoro dazu. Wie die Autorin zu Recht vermutet, dürfte gerade das Verhältnis der venezianischen Künstler zu diesen bedeutsamen Institutionen Rückschlüsse auf deren Ansehen und soziale Einbindung sowie auf ihr politisches Wirken zulassen. Die sorgfältige und detaillierte Zusammenstellung der Quellen zu den künstlerisch tätigen Mitgliedern wie Steinmetzen, Malern, Bildhauern, Vergoldern, Goldschmieden etc. im prosopografischen Anhang ist das große Verdienst dieser Studie, deren Wert für die (kunst)-historische Forschung sich jedoch vollends erst in den nächsten Jahren sukzessive eröffnen dürfte - insbesondere wiederum in monografischen Studien, die neue Erkenntnisse zu einzelnen Aufträgen und ihrem Kontext hervorbringen sollten.
Als Grundlage für das weitere Studium der Quellen dienen die drei Kapitel, die dem Anhang vorausgehen. Das Kapitel zu 'Stadt und Bruderschaft' beschreibt die Funktionsweise der Scuole, den Katalog ihrer selbst gestellten sozialen Aufgaben sowie die Regularien für die Aufnahme venezianischer und ausländischer Bürger und deren Möglichkeiten der Partizipation in der Hierarchie der Bruderschaften. Deren Struktur wird dabei von der Autorin innerhalb des venezianischen Staatsgefüges verortet, die die gegenseitige Beeinflussung von staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen und die enorme Bedeutung der Scuole für das Selbstverständnis der Republik als egalitäres Staatsgefüge belegt. Die Scuole sind so deutlich nicht ausschließlich als religiöse Institutionen, sondern als integraler Bestandteil des politischen Selbstverständnisses der Serenissima auszumachen. Erst auf Basis dieses grundsätzlichen Verständnisses der Scuole als Elemente des politischen Makrokosmos können die Überlegungen zur Partizipation der Künstler in den Scuole gewürdigt werden.
Im Folgenden stehen die Kunstpolitik der Scuole grandi und die Einflussmöglichkeiten der Künstler im Mittelpunkt. Diese waren nachweislich nicht nur interessiert an eigenen Aufträgen zur Ausstattung ihrer Scuola, sondern grundsätzlicher noch an der beratenden Teilhabe an Entscheidungen über Aufträge, die das Erscheinungsbild der Scuola prägen sollten. Auch kann die Autorin anhand der Quellen nachweisen, dass die Mitgliedschaft eines Künstlers nicht selbstredend in einen prestigeträchtigen Auftrag mündete. Im Gegenteil - wie das Beispiel Tizians in der Scuola di San Rocco zeigt, konnte sich dieser trotz Bemühen um einen Auftrag nicht in den entscheidenden Gremien durchsetzen (Anhang Nr. 1311). Anstelle der Entrichtung des jährlichen Beitrags konnte ein Künstler bei Lohnverzicht sogar ein Kunstwerk für die Ausstattung abgeben. Zum einen kam er so seinem Pflichtbeitrag nach, zum anderen war es sicherlich fürderhin von einigem Belang, auf ein eigenes Werk in einer der mächtigsten Institutionen der Serenissima hinweisen zu können.
Das abschließende dritte Kapitel widmet sich folgerichtig dem Selbstverständnis des Künstlers im Bezug zu seiner Scuola. Dabei zeigt sich an prominentem Beispiel, dass nicht nur weltliche Memoria, sondern auch Jenseitsverheißung Motive für das künstlerische Engagement in der eigenen Bruderschaft sein konnten. Das nachweislich drängende Bemühen Jacopo Tintorettos - vermutlich bereits seit 1549 passives Mitglied und nachweislich seit 1565 in unterschiedlichen Funktionen in San Rocco tätig (Anhang Nr. 1287) - Gemälde für die Scuola zu schaffen, ging im Juni 1564 so weit, dass er der Bruderschaft ein Bild schenkte und so den ausgeschriebenen Wettbewerb für das Deckenbild mit dem Heiligen Rochus in der Glorie umging und für sich zu entscheiden vermochte. In der Folge erhielt der Künstler den Auftrag für die Ausgestaltung des gesamten Albergo. Das durch Quellen zusammengetragene Material verdeutlicht weiterhin gerade im Anschluss an diesen Auftrag das große Engagement des Künstlers auch in Hinsicht auf die sozialen Aufgaben der Bruderschaft. So war er in verschiedenen Kommissionen tätig, die sich mit Mitgiftzuschüssen, Verwaltung von Nachlässen und Stiftungen befassten. Das Bild des sich unlauterer Methoden bedienenden Malers verdient spätestens jetzt eine Revision. Tintoretto hatte sicherlich handfeste berufliche Interessen, an so prestigeträchtigem Ort tätig zu werden, aber auch Erwägungen religiöser Art sind zu erkennen. Nach der These der Autorin zeigt sich denn der Maler selbst in der Gestalt des Schwammträgers Stephaton in der Großen Kreuzigung an der Stirnwand des Sitzungsraums in der Scuola di San Rocco, der damit wohl auch auf eine eigene vermeintliche Bußübung anspielen dürfte. Nach Auswertung der Quellen kann Gabriele Köster zu dem Schluss kommen - der nicht so gewagt erscheint, wie die Autorin mit der vorsichtlichen Wahl des Konjunktivs suggeriert -, dass Tintoretto ähnlich anderen Künstlern in den Aufträgen für die Scuole nicht nur Prestigegewinn als Maler der Serenissima sah, sondern auch eine Bußübung, die ihn für das Jenseits empfahl.
Damit schließt die Studie mit einem gewichtigen Beispiel dafür, welch großes Erkenntnispotenzial in dem bislang unausgewerteten Quellenmaterial liegt und vermutlich erst durch Detailstudium in den nächsten Jahren entdeckt werden wird. Der große Nutzen der Arbeit erschließt sich sicherlich nicht sofort jedem an venezianischer Kunst Interessierten; mit Arbeiten, die auf das umfangreiche Quellenmaterial zurückgreifen werden, ist jedoch in Zukunft zweifelsohne zu rechnen.
Brigitte Reineke