Jonathan Brown: The Canonization of al-Bukhārī and Muslim. The Formation and Function of the Sunnī Ḥadīth (= Islamic History and Civilization. Studies and Texts; Vol. 69), Leiden / Boston: Brill 2007, xxii + 431 S., ISBN 978-90-04-15839-9, EUR 135,00
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Die beiden ḥadīṯ-Sammlungen, die Muḥammad b. Ismā'īl al-Buḫārī (gestorben 256/870) und Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ (gestorben 261/875) in der ersten Hälfte des 3./9. Jahrhunderts zusammengestellt haben, erheben den Anspruch, nur solche Überlieferungen über Handlungen, Aussagen und Unterlassungen des Propheten Muḥammad zu beinhalten, die mit absoluter Sicherheit authentische Beschreibungen des Propheten sind. Aus diesem Grund tragen diese beiden Werke den Titel "aṣ-Ṣaḥīḥ (Die authentische [Sammlung])". Beide Werke zusammen werden meist durch Gebrauch des Duals als aṣ-Ṣaḥīḥain (Die beiden authentischen [Sammlungen]) zitiert. Sie bilden heute nach dem Koran die wichtigsten Referenzwerke für Muslime, mit deren Hilfe diese ein nach islamischen Prinzipien ausgerichtetes Leben ermittelt können. Schon allein dieser - man könnte sagen: kanonische - Status der aṣ-Ṣaḥīḥain rechtfertigt eine vertiefte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit denselben. Umso erstaunlicher ist es, dass es bislang keine nähere Untersuchung zu dem Zeitpunkt der Entstehung dieses kanonischen Status oder zu den Umständen und Funktionen der aṣ-Ṣaḥīḥain als wichtigste Repräsentanten des islamischen ḥadīṯ-Kanons, der meist fünf oder sechs Werke umfasst (9; FN 7), gibt.
Diese zentralen Fragen nimmt Jonathan Brown in seiner Monographie über die Kanonisierung der aṣ-Ṣaḥīḥain auf. Diese Untersuchung ist eine unter Waḍād al-Qadī angefertigte und überarbeitete Fassung seiner Dissertation. Durch die Übertragung der Erkenntnisse und Methoden der Kanonforschung (20-31) bietet der Autor durch diese Fragestellung tiefe Einblicke in die islamische Geistesgeschichte des 3./9. - 8./14. Jahrhunderts.
Diese Monographie besteht aus zwei Teilen. Teil 1 führt in das Thema ein, erläutert die Kanonforschung, beschreibt Leben und Werk al-Buḫārīs und Muslims, zeigt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den aṣ-Ṣaḥīḥain im "langen 4./10. Jahrhundert" und den anschließenden Kanonisierungsprozess Anfang des 5./11. Jahrhunderts. Teil 2 beschäftigt sich mit den Funktionen des Kanons, dem verteidigenden und widersprechenden Umgang der muslimischen Gemeinschaft damit und fasst die Ergebnisse der Untersuchung in sieben pointierten Fragen zusammen. Den Abschluss der Arbeit bilden zwei Anhänge, eine sehr ausführliche Auswahlbibliographie und ein Index.
Den Inhalt und die Argumentationslinien stellt Jonathan Brown selbst in einem zusammenfassenden Kapitel unter dem Titel "Thesis" dar (5-8). Diese Darstellung ist so konzise und selbsterklärend, dass der Leser dieser Rezension darauf verwiesen wird. Die darin enthaltene Hauptlinie ist folgende: Etwa 150 Jahre lang nach ihrer Kompilation wurden die aṣ-Ṣaḥīḥain kontrovers bewertet, bevor einige šāfi'ītische Gelehrte, allen voran al-Ḥākim an-Naisābūrī (gestorben 405/1014), diesen einen besonderen Argumentationswert zusprachen, der um 450 H. in deren kanonischem Status mündete. Parallel dazu entwickelte sich eine "kanonische Kultur", der sich immer mehr (später sunnitisch genannte) Gelehrte anschlossen.
Wichtig erscheint mir, dem Leser einige Begriffe und Konzepte zu erläutern, die der Autor regelmäßig verwendet und die für das Textverständnis von Bedeutung sind. Der Begriff Kanon geht auf das Wort kanón (griech.; = Maß, Maß-Stab) zurück und wurde von Aristoteles als Beschreibung eines aufrichtigen Mannes gebraucht, der durch sein Verhalten einen ethischen Standard setzt. Paulus benutzte den Begriff zur Beschreibung des richtigen Glaubens, wobei sich daraus die Bedeutung einer Liste heiliger Schriften ableitete (20-21). Um einen Kanon entwickelte sich meist eine "canonical culture (kanonische Kultur)", die sich in der Pflege des Kanons und dem Umgang mit dem Kanon durch "charity (Nachsicht)" ausdrückt (262-299). Eine solche "Nachsicht" legten muslimische Gelehrte dem Autor zufolge an den Tag, indem sie widersprüchliche Ereignisse aus dem Leben von al-Buḫārī und Muslim mit der kanonischen Kultur in Einklang brachten.
Weitere wichtige Termini sind: Erstens der Ausdruck "living isnād (lebender isnād)", den der Autor als Phänomen erklärt, das die Verlässlichkeit von Überlieferungen - anstatt durch autoritative Bücher - mittels einer direkten Verbindung durch Überliefererketten zwischen dem letzten Tradenten und dem Propheten belegt (368, FN 13); zweitens die Datierungsbezeichnung "the long fourth century (das lange vierte Jahrhundert)", mit welcher der Autor den Zeitraum zwischen 270-450 H. beschreibt (102). Vermutlich formte Jonathan Brown diesen Begriff in Anlehnung an den geläufigeren Ausdruck "das lange 19. Jahrhundert", der die Periode von 1789-1914/1918 n. Chr. beschreibt. Drittens versteht der Autor unter dem Begriff "über-Sunnis" den Teil der traditionalistischen Gelehrten, der die konservativsten Ansichten hatte. Zu ihnen gehörte beispielsweise Aḥmad b. Ḥanbal und solche Vertreter der späteren ahl as-sunna, die keinen rationalistischen Ansatz in ihrer theologischen Argumentation duldeten (77-78).
Diese Monographie besticht durch die ideengeschichtliche Breite, die sich von der klassischen Zeit des Islam (3./9. Jahrhundert) bis in die Moderne (spätes 20. Jahrhundert) hinzieht. Jonathan Brown hat ein weites Feld des Gelehrtentums zu den aṣ-Ṣaḥīḥain bearbeitet, was sich in der ausführlichen Bibliographie zu den Primärquellen widerspiegelt, und in einer verständlichen Sprache exzellent dargestellt. Die Struktur besticht durch Kohärenz und durch einzelne Zusammenfassungen nach jedem Kapitel, in denen die wichtigsten Erkenntnisse leicht zugänglich gemacht werden. Zu den Stärken der Darstellung gehört außerdem die Analyse des aṣ-Ṣaḥīḥain-Netzwerkes, das sowohl graphisch als auch verbal Zusammenhänge zwischen Gelehrten aufzeigt, die maßgeblich an der Vorbereitung und Einführung des aṣ-Ṣaḥīḥain-Kanons beteiligt waren. Schwächen hat diese Monographie keine. Die regelmäßig übersetzten Buchtitel - eine sinnvolle Arbeit, die viel zu wenige Islamwissenschaftler vornehmen - finden nur in wenigen Fällen eine Ausnahme (294; 303; 314; 322); auch Rechtschreibfehler kommen so gut wie nie vor (Ausnahme: (390) bei Fück und Gilliot). Der unangenehme und vermeidbare Fehler bei der Nennung der Reihe - Islam History (anstatt Islamic History) and Civilization (II) - geht vermutlich auf den Verlag zurück.
Bei dem Gebrauch der wissenschaftlichen Umschrift fällt auf, dass der Autor die Konjunktion wa- (ebenso die Präposition fī) ungewöhnlicherweise nicht an das nachfolgende Wort anbindet und deswegen das folgende hamza des Artikels nicht als waṣla auffasst (wa al-xxx). Bei den beiden Präpositionen bi- und li- verwendet er allerdings die Schreibung mit waṣla (beispielhaft 203; 331), von der er bei bi- aus Gründen der Konsistenz (bi-al-xxx) und bei li- wegen der feststehenden Regel (lil-xxx; Fischer, Grammatik, § 22a) absehen müsste. Auch der Gebrauch bei der Umschrift des Personalsuffixes -hu/-hū ist fehlerhaft. Dieses gilt nur nach geschlossenen Silben als kurz, nach offenen Silben jedoch als lang (Fischer, Grammatik, § 7, Anm. 3). So muss es heißen ayyāmihī (69) oder kitābuhū (331), aber fīhi (285) oder 'anhu (290).
Doch diese formalen Kritikpunkte können den Wert der Arbeit nicht schmälern. Jonathan Browns Monographie bleibt eine exzellente Studie, in welcher der Autor ausgewogen argumentiert, den eigenen Befund regelmäßig hinterfragt und seine Analyse vorbildlich präsentiert. Wer immer sich fragt, wie die aṣ-Ṣaḥīḥain ihren kanonischen Status erhalten haben, findet hier eine fundierte und umfassende Antwort.
Anmerkung:
[1] Wolfdietrich Fischer: Grammatik des Klassischen Arabisch. 2. Aufl. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1987.
Jens Scheiner