Stefan Esders (Hg.): Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, VIII + 416 S., ISBN 978-3-412-20046-6, EUR 24,90
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Die historische Konfliktforschung hat sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Forschungszweig der Mediävistik entwickelt. Eine kritische Spitze gegen die starren Konzepte der älteren Rechts- und Verfassungsgeschichte zeichnete diese Richtung von Beginn an aus. Der Austrag und die Schlichtung von Konflikten sollten nicht an den überlieferten Normen gemessen und in ein abstraktes System einer imaginierten Rechtsordnung eingeordnet, sondern aus der Sicht der Akteure und ihrer Handlungsstrategien rekonstruiert werden. Hanna Vollrath trug zu dieser Sichtweise erheblich bei, indem sie den Charakter des frühen Mittelalters als primär oraler Gesellschaft unterstrich. Diese Oralität hat nach Vollrath zur Folge, dass schriftliche Normen kaum diejenige Bedeutung erfüllen konnten, die ihnen in der älteren Rechts- und Verfassungsgeschichte bei der Konfliktbewältigung zugeschrieben wurde.
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zu Ehren von Frau Vollrath zurück. In insgesamt 17 Beiträgen wird der gegenwärtige Stand der mediävistischen Konfliktforschung dokumentiert. In diesem Rahmen ist es nicht möglich, auf alle Beiträge im Detail einzugehen. Ich beschränke mich daher auf eine Auswahl.
Chris Wickham (Public Court Practice: The Eighth and Twelfth Centuries Compared, 17-30) beschreibt den Übergang von den formellen Gerichtsversammlungen des frühen Mittelalters zu den informellen Ratsgremien des Hochmittelalters und setzt diesen Wandel in Bezug zur Debatte um die feudale Revolution. Die Ursache für den Wandel lokalisiert Wickham nicht in der Professionalisierung der Rechtssprechung, sondern in der Veränderung der politischen Legitimation öffentlichen Handelns.
Warren Brown (Konfliktaustragung, Praxis der Schriftlichkeit und persönliche Beziehungen in den karolingischen Formelsammlungen, 31-53) macht auf das Nebeneinander verschiedener Konfliktstrategien aufmerksam und sieht darin das Charakteristikum der karolingischen Rechtspraxis. Auch Stefan Esders (Der Reinigungseid mit Helfern. Individuelle und kollektive Rechtsvorstellungen in der Wahrnehmung und Darstellung frühmittelalterlicher Konflikte, 55-77) hebt die Pluralität unterschiedlicher "Rechtsformen und -schichten" hervor. Den Siegeszug des Reinigungseides im frühen Mittelalter deutet er als Folge der Schwäche obrigkeitlicher Verfahren der Wahrheitsermittlung.
Claudia Zey (Gleiches Recht für alle? Konfliktlösung und Rechtssprechung durch päpstliche Legaten im 11. und 12. Jahrhundert, 93-119) befasst sich mit den Problemen der Etablierung der Gerichtsbarkeit durch päpstliche Legaten. Rangfragen mussten von den Legaten stets im Auge behalten werden, da sie nicht selten über höher stehende Prälaten zu Gericht saßen oder zwischen Parteien sehr unterschiedlichen Standes urteilten. Trotz dieses Konflikts zwischen Rechtsgeltung und Standesbewusstsein bescheinigt Zey dem Wirken der Legaten einen "egalitären Zug".
Marita Blattmann (Protokollführung in römisch-kanonischen und deutschrechtlichen Gerichtsverfahren im 13. und 14. Jahrhundert, 141-164) gibt einen souveränen Überblick über die Quellengattung der Gerichtsprotokolle und widmet sich den Anfängen der Aufzeichnung deutschrechtlicher Prozesse in den sogenannten Haderbüchern.
Christine Reinle (Das mittelalterliche Sodomiedelikt im Spannungsfeld von rechtlicher Norm, theologischer Deutung und gesellschaftlicher Praxis, 165-209) spannt einen Bogen vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Erst seit dem 13. Jahrhundert sei Sodomie in der weltlichen Gesetzgebung durch schwere Strafen geahndet worden. Diese normative Drohkulisse habe aber in den deutschen Landen kaum eine Wirkung entfaltet, weil die Verfolgung von Sodomiedelikten zumeist an der Beharrungskraft lokaler Gemeinschaften gescheitert sei.
Patrick Geary (Oathtaking and Conflict Management in the Ninth Century, 239-253) behandelt die Funktion volkssprachlicher Eide bei den karolingischen Herrschertreffen des 9. Jahrhunderts. Sie hätten in erster Linie als Symbol der Einheit des Frankenreichs gedient. Die von Geary geäußerte Vermutung, beim Herrschertreffen von Koblenz (860) habe zuletzt nicht Lothar II., sondern Ludwig der Deutsche die Einhaltung der Kapitel gelobt, erscheint mir wenig stichhaltig.
Letha Böhringer (Gewaltverzicht, Gesichtswahrung und Befriedung durch Öffentlichkeit. Beobachtungen zur Entstehung des kirchlichen Eherechts im 9. Jahrhundert am Beispiel Hinkmars von Reims, 255-289) sieht in den Schriften Hinkmars vor allem den Versuch, die Meinungsführerschaft in Fragen des Eherechts an sich zu reißen. Dass der Reimser Erzbischof erfolgreich war, hängt nach Böhringer mit seiner Bereitschaft zusammen, sich auf Versammlungen weltlicher und geistlicher Amtsträger einer konsensualen Entscheidungsfindung zu stellen.
Stefan Weinfurter (Konfliktverhalten und Individualität des Herrschers am Beispiel Kaiser Heinrichs II., 291-311) bricht erneut eine Lanze für die durch Heinrich II. vollzogene Wende in der Ausübung von Königsherrschaft. Heinrich habe sich nicht an die Spielregeln der konsensualen Herrschaft aus ottonischer Zeit gehalten, er habe vielmehr Konflikte offen provoziert und autokratische Entscheidungen gegen Widerstände durchgesetzt. Erklären lasse sich dieser Wandel nur durch den idiosynkratischen Charakter und Werdegang Heinrichs.
Weitere Beiträge beschließen diesen vielseitigen und dennoch auf gelungene Weise thematisch gebündelten Tagungsband. Dass die Polemik gegen rechtsgeschichtliche Kategorien nicht mehr auftaucht, belegt den hohen Grad an Akzeptanz der handlungstheoretisch ausgerichteten Konfliktforschung.
Karl Ubl