Hartmut Kugler: Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, Berlin: Akademie Verlag 2007, 2 Bde., 173 S. + 370 S., ISBN 978-3-05-004117-9, EUR 178,00
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Seit einiger Zeit werden kartographische Darstellungen des Mittelalters nicht mehr allein an präzisen Kartierungen der Neuzeit gemessen, sondern vermehrt als zeitspezifisches Zeugnis für Raumwahrnehmung und Organisation von Wissen untersucht. Vor allem die Auseinandersetzung verschiedener Disziplinen mit den großformatigen und detailreichen Mappae Mundi des 13. Jahrhunderts hat zu diesem neuen Verständnis mittelalterlicher Karten beigetragen und klar gemacht, dass diese weder wahllos und in horror vacui Bilder und Texte präsentieren noch allein Sinnbilder einer Weltsicht darstellen, sondern durchaus strukturiert und innovativ Kenntnisse und Vorstellungen auf der Kartenfläche verorten.
Mit Editionen dieser hochkomplexen Weltkarten kann nun ihre Erforschung auf eine breitere Ebene gestellt werden. Wurde 2001 die Herefordkarte durch Scott Westrem herausgegeben, so hat der Erlanger Germanist Hartmut Kugler nun eine verkleinerte Neufassung der Ebstorfer Weltkarte vorgelegt und in zwei Teilbänden dokumentiert. Neu ediert wurde damit eine Karte, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und allein über Reproduktionen und Rekonstruktionen unterschiedlicher Zeitstellungen tradiert ist. Die besondere Überlieferungssituation im Blick, erläutert Kugler sämtliche Einträge auf dieser 3,58 x 3,56 m großen Mappa Mundi, übersetzt die lateinischen Texte, identifiziert und verifiziert die Legenden. In einem prägnanten Kommentar, der sich systematisch mit der Gestaltung, den Inhalten und Quellengrundlagen, dem Herstellungskontext sowie möglichen Funktionen der Karte befasst, wird diese nicht als Kopie einer verschwundenen Großkarte oder als defizitäres Derivat einer kartographischen Tradition der Antike behandelt, sondern integral als Produkt mittelalterlicher (Buch-)Kultur interpretiert.
Kuglers Überlegungen zum Zeichensystem der Ebstorfer Weltkarte lassen deutlich werden, dass derartig semiotisch dichte Darstellungen des Mittelalters offenbar mit Bedacht hergestellt wurden und als Wissenssummen angelegt waren. Beschrieben werden verschiedene Elemente, die unter den zahlreichen Legenden und Texten, szenischen Bildern, Darstellungen von Menschen und Monstern, Tieren und Fabelwesen, Pflanzen, Flüssen, Gebirgen, Gebäuden und Städten Ordnung stiften: narrative Einheiten, die Wahrnehmung steuernde Zeichenbeziehungen sowie in besonderem Maße die Verschränkung des aus der Antike überlieferten Schemas einer dreigeteilten Welt in Kreisform mit der Gestalt Christi, dessen Haupt, Hände und Füße an den Kartenrändern sichtbar sind. Als Hinweis auf eine reflektierte Anlage der Karte werden auch die bisher vielfach vernachlässigten Außenlegenden der Ebstorfer Weltkarte in Anschlag gebracht, die ein Nachdenken über die Lesbarkeit der Karte erkennen lassen.
Mit Einblicken in die Herkunft der Einträge, die der Schreiber und die beiden Illustratoren der Ebstorfer Weltkarte auf der Mappa Mundi verortet haben, wird eine breite Rezeption schriftlicher und bildlicher Überlieferung fassbar. Nicht allein die Bibel und antike Überlieferung, sondern durchaus auch mittelalterliche Texte, darunter vor allem die Etymologien des Isidor von Sevilla und die Imago Mundi des Honorius Augustodunensis, sind in der Karte verarbeitet worden. Kugler zieht auch die Rolle in Betracht, die kartographische Textbücher bei der Kartenproduktion gespielt haben könnten, weist aber zu Recht darauf hin, dass kaum nachzuvollziehen ist, wie bei der Umsetzung und Verortung schriftlichen Materials in den Kartenraum vorgegangen wurde. Er betont hingegen, wie fruchtbar die Einbeziehung der bildlichen Tradition bei der Analyse kartographischer Darstellungen ist. Im Vergleich mit zeitgleichen Bildmotiven und Darstellungsmustern, die für den Unterricht und zu andächtiger Betrachtung verwendet wurden, charakterisiert er die Ebstorfer Weltkarte als "Merkbild für 'Reisen' der Seele" (Bd. 2, 22).
Kuglers Auseinandersetzung mit dem rezipierten Schrifttum, das auf keinen bestimmten Kartenautor hindeutet, bestärkt die Befunde Jürgen Wilkes, der die Ebstorfer Mappa Mundi aufgrund von Handschriftenvergleichen in die Zeit um 1300 datiert hat. Damit ist die Frage nach der Verfasserschaft und politischen Implikationen der Weltkarte neu gestellt. Wenn auch Gervasius von Tilbury als Autor und eine Entstehung der Karte im Kontext welfischer Politik in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht mehr wahrscheinlich erscheinen, so lassen doch sowohl auf der Karte abgebildete Örtlichkeiten wie auch stilistische und motivische Verwandtschaften mit künstlerischen Erzeugnisse aus Frauenklöstern im Lüneburger Raum um 1300 vermuten, dass diese Mappa Mundi im braunschweigisch-lüneburgischen Herrschaftsbereich der Welfen angefertigt worden ist.
Hartmut Kuglers Neuedition stellt also gut aufbereitetes Material für zukünftige Auseinandersetzungen mit der Ebstorfer Mappa Mundi und mithin auch für vergleichende Studien zu mittelalterlichen Weltkarten zur Verfügung. Indem sie verschiedene Herangehensweisen bei der Interpretation dieser Mappa Mundi erwägt und diese nicht nur im Rahmen der Kartengeschichte, sondern auch im Kontext der zeitgenössischen Tradition von Schriftgut und bildlichen Darstellungen situiert, bietet sie auch methodisch reiche Anregung.
Martina Stercken