Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener GULAG. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz, München: Siedler 2006, 222 S., ISBN 978-3-88680-853-3, EUR 19,95
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Nicolas Werth: Les "Operations de masse" de la "Grande Terreur" en URSS (1937-1938). http://www.ihtp.cnrs.fr/spip.php?article614 (= Bulletin de l'Institut d'histoire du temps présent; 86 (2006))
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Sarah Davies / James Harris (eds.): Stalin. A New History, Cambridge: Cambridge University Press 2005
Richard Lourie: Sacharow. Biographie. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: Luchterhand Literaturverlag 2003
Deutsches Historisches Museum / Schweizerisches Nationalmuseum (Hgg.): 1917 Revolution. Russland und die Folgen. Essays, Dresden: Sandstein Verlag 2017
Das neue Buch des französischen Stalinismusforschers Nicolas Werth ist ein Meisterwerk. Sein Gegenstand ist schrecklich: Es geht um das Schicksal von über 6.000 Menschen aus Moskau, Leningrad und anderen sowjetischen Großstädten, die im Frühjahr 1933 nach Westsibirien deportiert wurden. Die Insel Nasino im Ob wurde für die meisten von ihnen zur tödlichen Endstation. Die durch den langen Transport und die miserablen Verhältnisse im Transitlager von Tomsk, 900 Kilometer südlich von Nasino, bereits stark Geschwächten erwartete dort eine mörderische Hungersnot. Auf der Insel fehlte es am Nötigsten, und das zur Versorgung bereitgestellte Mehl verrottete unerreichbar am anderen Flussufer. Ein Massensterben setzte ein, und es kam zu einigen Dutzend Fällen von Kannibalismus: Die Menschenfresser mordeten oder schnitten jungen Frauen bei lebendigem Leib die Waden oder die Brüste ab, um sie zu verzehren. Die entsetzten Bewohner des am Fluss gelegenen Dorfes Nasino sprachen seither von der "Kannibaleninsel". Im August 1933 war von über 6.000 Deportierten nur noch ein Drittel am Leben.
Werths Darstellung dieser grauenhaften Episode stalinistischer Verfolgungspolitik ist, ungeachtet des etwas reißerischen Titels, alles andere als eine banale Gruselgeschichte. Mit souveräner Kenntnis seines Forschungsfeldes und auf einer breiten Quellenbasis beschreibt der Autor das Bedingungsgefüge, das zu den katastrophalen Verhältnissen von Nasino geführt hat. Die Instanzenkonflikte zwischen Moskau und der westsibirischen KP, die klimatischen Bedingungen und das Bandenwesen in Russlands "Wildem Osten", die Reaktionen der Einheimischen, die Schicksale der Deportationsopfer und nicht zuletzt die mutige Handlungsweise des jungen kommunistischen Journalisten Wassilij Welitschko, der die katastrophalen Verhältnisse dokumentierte - all das verbindet Werth in kristallklarem Stil zu einer Darstellung, die eine oft erschreckende Anschaulichkeit mit beeindruckender analytischer Tiefenschärfe verbindet. Zu einem Meilenstein der Stalinismusforschung wird die mit maßgeblicher Unterstützung des Nowosibirsker Historikers Sergej Krassilnikow entstandene Studie dadurch, dass sie Vorgänge in der bislang noch nicht sehr intensiv beleuchteten, von der Zwangskollektivierung (1929-1932) und dem Großen Terror (1937/38) umschlossenen "Zwischenepoche" in paradigmatischer Weise untersucht und die Entwicklungslinien, die beide verbinden, besser verständlich macht.
Die Deportationsaktion war das Ergebnis des "großartigen Plans", den der Chef der Geheimpolizei OGPU, Genrik Jagoda, und der Leiter des GULag, Matwej Berman, Stalin im Februar 1933 unterbreitet hatten. Nach den Erfahrungen mit Massendeportationen von rund zwei Millionen Menschen und der Entstehung eines Systems von Sondersiedlungen, die bei der "Entkulakisierung" der Landwirtschaft gewonnen worden waren, sollten nun weitere zwei Millionen "antisowjetische Elemente" aus Städten und ländlichen Gebieten verbannt werden, insbesondere noch nicht verfolgte "Kulaken" - also wohlhabende Landwirte -, renitente Kolochosbauern, Kulaken, die von ihren Verbannungsorten geflohen waren, "städtische Elemente", die ihrer im Zuge der Ausstellung von Inlandspässen erfolgten Ausweisung aus ihren Heimatstädten nicht Folge geleistet hatten und schließlich Personen, die zu Strafen von weniger als fünf Jahren verurteilt worden waren, soweit sie nicht als besonders "sozial gefährlich" galten. In Westsibirien und Kasachstan sollten sie in so genannten Sondersiedlungen leben und das Land urbar machen.
In Westsibirien hatte man indes schon große Schwierigkeiten, mit den 300.000 dorthin deportierten "Kulaken" zurechtzukommen. Doch die Proteste des regionalen Parteichefs Robert Eiche hielten Moskau nicht von der Umsetzung des "großartigen Planes" ab. Über die dazu benötigten Ressourcen wurde im Februar 1933 in Moskau auf geradezu abenteuerliche Weise gefeilscht. Die verbrecherische Fahrlässigkeit, mit der die sowjetische Führungsspitze ohne jede Rechtsgrundlage - wenn man nicht bloßen Verfügungen des Politbüros eine solche Qualität zuschreibt - über die Schicksale Hunderttausender von Menschen entschied, zeigte sich etwa darin, dass innerhalb von nur drei Tagen einmal von zwei Millionen und dann wieder von 500.000 zu Verbannenden die Rede war. Stalins Adlatus Molotov machte sich vor allem über die Kosten der Aktion Sorgen und verlangte einen "Eigenbeitrag" der Deportierten.
Menschenverachtung, Schlamperei und die zynische Gehässigkeit, mit der all jene bedacht wurden, denen man den Stempel "antisowjetisches Element" aufgedrückt hatte, führten an den Deportationsorten zu Zuständen, die bei den eilends angeworbenen Wachleuten vor Ort die Frage aufkommen ließ, ob es die Mächtigen bewusst darauf abgesehen hatten, die Opfer zu Grunde gehen zu lassen. Dass das nicht der Fall war, zeigte die Intervention des jungen Parteiinstrukteurs und Journalisten Wassilij Welitschko, der drei Monate nach Eintreffen der Unglücklichen auf Nasino eine Untersuchung durchführte, über deren Ergebnisse er aus eigener Initiative Stalin brieflich informierte. Während die westsibirische Regionalpresse voll von Propaganda-Artikeln war, in denen die in den Sondersiedlungen angeblich vollbrachten Aufbauleistungen gepriesen wurden, schenkte Welitschko in seinem zwanzigseitigen Schreiben Stalin reinen Wein ein. Er beschrieb die elenden Lebensbedingungen und die Ahnungs-, Verantwortungs- und Tatenlosigkeit der für die Ansiedlung Zuständigen und verwies darauf, dass sich unter den Deportierten eine beträchtliche Zahl von (auch nach stalinistischen Kriterien) völlig loyalen und unverdächtigen Menschen befand. Kafkaeske Szenarien hatte es da gegeben: Menschen waren auf dem Weg zum Einkaufen festgehalten und nur, weil sie den frisch eingeführten Pass nicht bei sich hatten, auf den Weg nach Westsibirien geschickt worden. Bei anderen Deportationsopfern handelte es sich um Unterstützungsbedürftige, derer sich die örtlichen Behörden auf billige Weise zu entledigen suchten. Der Leiter der westsibirischen Sondersiedlungen, Ivan Dolgich, hatte ausdrücklich verboten, Beschwerden von solchen Personen zu überprüfen.
Im September 1933 erhielt Stalin Welitschkos Brief, den er im Politbüro zirkulieren ließ. Unmittelbar darauf machte sich eine hochrangige Kommission vor Ort ein Bild von den Verhältnissen. Ihre Mitglieder sahen "Sondersiedlungen", in denen sich Menschen unter Dächern aus Zweigen am Lagerfeuer zusammendrängten und sprachen mit Hunderten von Verbannten, die keiner der Zielkategorien angehörten und aus reiner Willkür deportiert worden waren. Der Kommissionsbericht führte schließlich dazu, dass der "großartige Plan" Jagodas, nachdem er zu etwas mehr als 13 Prozent erfüllt worden war, eingestellt wurde. Einige der lokalen Verantwortlichen für das Desaster von Nasino wurden verhaftet, Ivan Dolgich indes erhielt nur eine "strenge Rüge".
Werths Annahme, eben jener Dolgich sei in den 1950er-Jahren sogar Chef des GULag geworden, beruht indes auf einer Verwechslung. Im sowjetischen Sicherheitsapparat gab es zwei Dolgichs, von denen der Verantwortliche für die westsibirischen Sondersiedlungen, der später diverse Lager des GULag und ein Kriegsgefangenenlager leitete, schon 1950 in Pension ging. Er ist nicht identisch mit dem Generalleutnant I. I. Dolgich, der von 1951 bis 1954 Chef des GULag war und 1956 im Zuge der Entstalinisierung seinen militärischen Rang und seine KP-Mitgliedschaft verlor. [1]
Die Geschichte, die Werth berichtet, nimmt indes keinerlei positive Wendung, denn die Folge des Scheiterns des "großartigen Plans" war, dass die "antisowjetischen Elemente" nun statt in Sondersiedlungen verbannt zu werden, vermehrt in den Gulag eingewiesen wurden, ja das gewalttätige social engineering des Stalin-Regimes mündete schließlich in die gezielte Vernichtungspolitik des Großen Terrors.
In der "Insel der Kannibalen" begnügt sich Werth mit einem knappen Ausblick auf diese Entwicklung. In der jüngst erschienenen Ausgabe 86 des "Bulletin de l'Institut d'histoire du temps présent" hat er dazu eine Edition von mehr als einhundert Dokumenten in französischer Übersetzung vorgelegt und diese mit einer instruktiven Einleitung versehen. Er stützt sich dabei auf eine Reihe von russischsprachigen Editionen, darunter den von ihm selbst herausgegebenen ersten Band der 2004/5 in Russland erschienenen siebenbändigen Dokumentation zum Stalinschen Gulag. Werth betont, dass das vor der Öffnung der sowjetischen Archive vorherrschende und immer noch nachwirkende Bild vom Großen Terror als einer vor allem gegen Mitglieder der sowjetischen kommunistischen Partei und zumal ihrer Elite gericheteten Verfolgungswelle eine grobe Verzerrung ist, die auf Chruščevs höchst selektive "Enthüllungen" zurückgeht. [2] Chruščev, der als Parteichef von Moskau 1937/38 unmittelbar in die Durchführung der Massenverhaftungen und -erschießungen des Großen Terrors eingebunden war, hatte allen Grund, den wahren Charakter der stalinistischen Vernichtungspolitik zu verschleiern. Die "Massenaktionen", die über 90 Prozent der Opfer des Großen Terrors erfassten, sind, so Werth, klar von den "Säuberungen" der Elite zu unterscheiden. Die Masse der Verfolgten rekrutierte sich aus denjenigen Gruppen der Gesellschaft, die das Regime schon seit Beginn der 1930er-Jahre marginalisiert hatte: "Von eineinhalb Millionen Verhafteten waren weniger als 100 000 Kommunisten; mehrere Zehntausend gehörten zur 'Oberschicht' der Nomenklatura." (32)
Die intensiv vorangetriebene Stalinismusforschung der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte hat die Grundstruktur des "Großen Terrors" schon recht klar offengelegt: Wir wissen inzwischen, dass die Massenverfolgung entgegen revisionistischen Theorien von oben initiiert und kontrolliert wurde und dass sie sich aus einer Reihe von Einzelaktionen zusammensetzte: Neben der Elitenverfolgung, an der Stalin und seine engste Umgebung durch Anweisungen an das Militärkollegium des Obersten Gerichts zur Verhängung von rund 40.000 Todesurteilen besonders intensiven Anteil hatten, waren das die "Kulakenaktion" und eine Reihe "nationaler Aktionen", die sich gegen Angehörige nationaler Minderheiten und Exilgemeinschaften in der Sowjetunion richteten, vor allem gegen Deutsche und Polen, aber auch Letten, Finnen, Griechen und andere. Neben der bedeutsamen Transferleistung, durch die Werth eine große Zahl bislang ausschließlich im russischen Original publizierter Dokumente Französisch lesenden Interessierten zugänglich macht, liegt das Verdienst seiner Bulletin-Publikation vor diesem Hintergrund vor allem darin, dass er die Massenaktionen präziser als das bisher geschehen ist in die historische Entwicklung der 30er-Jahre einordnet. Werth bewegt sich dabei jenseits der alten Frontstellung von Revisionisten und Totalitarismustheoretikern, die in Denkstil und wissenschaftlicher Blickrichtung viele Analogien in der Debatte zwischen Funktionalisten und Intentionalisten in der NS-Forschung findet.
Nachdem das revisionistische Modell des Terrors, das stark an die von Hans Mommsen für das NS-Regime entwickelte Denkfigur einer aus Institutionenkonkurrenzen und Sachzwängen erwachsenen "kumulativen Radikalisierung" angelehnt ist, dokumentarisch durch den Nachweis der zentralen Rolle Stalins widerlegt worden ist, stellt sich die Frage nach den Motiven und Impulsen für die Massenverfolgung von Neuem. Stalins ideologische Fixierungen und seine persönliche Grausamkeit allein reichen als Erklärung nicht aus. Werth bietet hier einen Ansatz, der die wesentlichen Erkenntnisse der jüngeren Stalinismusforschung integriert. Er macht deutlich, dass die Dreißiger Jahre der Sowjetunion als eine Einheit gesehen werden müssen. Die "Kulaken", die das primäre Angriffsziel der Zwangskollektivierung gewesen waren, standen auch im Zentrum der quantitativ umfangreichsten Verfolgungswelle des Großen Terrors. Schon 1929-32 war es ja nicht allein um ihre gewaltsame Enteignung gegangen, vielmehr wurde die wohlhabende bäuerliche Schicht als eine politische Gefahr betrachtet, die es zu neutralisieren galt, was durch Lagerhaft oder Verbannung geschah. Von den in "Sondersiedlungen" - dem im Titel von Werths Buch apostrophierten "vergessenen Gulag" - Verbannten flüchtete allerdings ein beträchtlicher Teil, Werth spricht von bis zu 40 Prozent. In der in einem tiefen Umbruch befindlichen Gesellschaft der 30er-Jahre mit ihren Tausenden von Großbaustellen und ihrer wildwüchsigen Urbanisierung, aber auch in den wenig durchherrschten Weiten des asiatischen Teils der Sowjetunion, die Werth in der "Insel" anschaulich beschreibt, konnten sie leicht Unterschlupf finden. Das Regime sah in ihnen und zugleich in den Angehörigen nationaler Minderheiten, verstärkt durch den Eindruck der Zuspitzung internationaler Konflikte in der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre, das Rekrutierungspotenzial für eine fünfte Kolonne und einen generellen Störfaktor, dem man mit den bisherigen Methoden nicht hatte beikommen können. Die als Staatsgeheimnis behandelten Operationen des Großen Terrors sieht Werth daher als ein "Massenverbrechen [...], das eine riesige Operation des social engineering und der gesellschaftlichen 'Säuberung'" gewesen sei (11). Weit mehr als eineinhalb Millionen Verhaftungen und - berücksichtigt man eine realistische Dunkelziffer - eine etwa 10 bis 15 Prozent über der offiziellen Angabe von 681.692 liegende Zahl von Getöteten kennzeichnen einen, so Werth, "wirklichen Knotenpunkt 'kumulativer Radikalisierung'" in der Geschichte der Sowjetunion zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1921 und Stalins Tod. Drei Viertel aller in dieser Periode verhängten Todesurteile fallen auf die Jahre 1937/8 (10). Werths jüngste Veröffentlichungen zeigen deutlicher und anschaulicher als das bisher geschehen ist, dass die Ausgangsbasis für diesen Paroxysmus der Gewalt mit Stalins "Revolution von oben", insbesondere mit der Zwangskollektivierung, gelegt worden ist.
Anmerkungen:
[1] N. V. Petrov (otv. redaktor i sostavitel'): Istorija stalinskogo Gulaga, t. 2: Karatel'naja sistema: struktura i kadry. Moskva 2004, 651.
[2] In seinem skandalumwitterten, von der russischen Präsidialverwaltung initiierten Lehrerhandbuch "Neueste Geschichte Russlands 1945-2006" schreibt Aleksandr Filippov: "Die Forschungen russischer und ausländischer Historiker bestätigen das Faktum, dass die regierende Schicht zum bevorzugten Opfer der Repressionen der 1930er- bis 1950er-Jahre wurde." (Novejšaja istorija Rossii 1945-2006 gg. Kniga dlja učitelja. Moskva 2007, 89). Diese Behauptung hat mit dem tatsächlichen Stand der Forschung ebenso wenig zu tun wie Filippovs gesamte verzerrte und verharmlosende Darstellung des stalinistischen Terrors.
Jürgen Zarusky