Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg: Hamburger Edition 2007, 595 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-936096-80-4, EUR 35,00
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Bernd Greiner hat mit seiner Studie - um es vorwegzunehmen: mit seiner großen und großartigen Studie - keine Gesamtdarstellung des Vietnamkriegs vorgelegt, auch keine Gesamtdarstellung der amerikanischen Kriegführung in Vietnam. Den Luftkrieg, in dem die US-Streitkräfte mehr Bomben abwarfen als auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs insgesamt niedergingen, den flächendeckenden Einsatz von Herbiziden und des Entlaubungsmittels Agent Orange, die Millionen Hektar Land vergifteten, all das behandelt Greiner eher kursorisch. Über die vietnamesische Seite, die militärischen Aktionen des Vietcong und der nordvietnamesischen Armee, ebenso wie über die Rolle der mit den Amerikanern verbündeten südvietnamesischen Regierung und Truppen wird der Leser nur knapp informiert. Eindringlich schildert Greiner die traumatisierenden Gewalterfahrungen, welche die Zivilbevölkerung erleiden musste, doch in den Quellen, die er auswertet - Archivbestände von der Armeeführung eingesetzter Untersuchungsgruppen, die umfangreiche Dossiers über Kriegsverbrechen in Vietnam erstellten -, kommen die überlebenden Opfer des Kriegs nur äußerst selten selbst zu Wort.
Im Zentrum seiner Studie stehen die Gewaltexzesse amerikanischer Bodentruppen und Hubschrauberbesatzungen in Südvietnam. Zugespitzt formuliert: Greiner hat ein Buch über Massaker geschrieben, über Massaker im Krieg und über den Krieg als Massaker. Die Ermordung von mehr als 400 Dorfbewohnern in My Lai - die minuziöse Rekonstruktion dieses bekanntesten Massakers bildet ein Kernstück des Buches - und zahllose weitere kleinere und größere Tötungsaktionen, bei denen Zivilisten, die sich in den zu "free fire zones" erklärten Gebieten aufhielten, wahllos erschossen und die Getöteten im Nachhinein zu Vietcong erklärt wurden, sind zweifellos nicht der ganze Vietnamkrieg, aber es gelingt Greiner überzeugend, ausgehend von einer dichten Beschreibung der Gräueltaten die Ratio dieses Krieges insgesamt herauszupräparieren. Der Blick auf das Extreme zeigt hier zugleich das Paradigmatische. Die Exzesse von US-Truppen waren nicht Ausnahmen, welche die Regeln militärischen Handelns temporär außer Kraft setzten, die Entgrenzung der Gewalt war vielmehr in der Dynamik asymmetrischer Kriegführung selbst angelegt. Die Kampfeinheiten im Dschungel agierten aus, auch wenn sie über konkrete Befehle hinaus oder ohne Befehl mordeten, was ihre Vorgesetzten wollten und zu wollen hatten, weil es die Kriegsherren in Washington als strategische Ziele formuliert hatten.
Präzise analysiert Greiner die einander verstärkenden Prozesse der Radikalisierung und Selbstradikalisierung auf allen Akteursebenen: Da waren zunächst die Präsidenten und politischen Entscheidungsträger, die gegen massive Warnungen aus den eigenen Reihen einen Krieg begonnen hatten, von dem sie ahnten, dass er nicht zu gewinnen sein würde, die aber zugleich außerstande waren, sich die Möglichkeit eines Siegs der Gegenseite auch nur vorzustellen. Sie blieben deshalb in der Falle des Nicht-aufhören-Könnens verfangen und führten am Ende den Krieg vor allem deshalb fort, weil sie um keinen Preis ihre persönliche Glaubwürdigkeit und die damit gleichgesetzte Glaubwürdigkeit der Weltmacht USA einbüßen wollten.
Die auf ihre überlegene Feuerkraft und die Abnutzung des Gegners fixierte militärische Führung wiederum verlegte sich auf das Modell der "Vakuumfalle": "Weil US-Bodentruppen aus politischen Gründen nicht in Nordvietnam einmarschieren konnten, galt es so viele Soldaten des Nordens wie möglich in den Süden zu locken und dort zu vernichten." Immer wieder wurden die gleichen Gebiete besetzt, durchkämmt, wieder geräumt in der Erwartung, dass der Feind mit neuen Kämpfern nachrückte, um diese dann von Neuem mit massiver Feuerkraft zu vernichten. In dieser Logik des Ausblutenlassens war es nur konsequent, dass die Generäle nicht Geländegewinne oder die Zerstörung von Waffen und militärischer Infrastruktur, sondern den "Body Count", die Zahl der feindlichen Toten, zum obersten Maßstab des Erfolgs machten.
Einen wesentlichen Faktor für die Radikalisierung der Gewalt gegen Zivilisten stellten die Offiziere und Unteroffiziere dar. Hier trafen eine große Zahl von Unqualifizierten, die nur aufgrund des immensen Bedarfs und nach einer unzureichenden Ausbildung diesen Rang erreicht hatten, auf eine ebenso große Gruppe von Desinteressierten, die einzig aus dem Grund für sechs Monate nach Vietnam geschickt worden waren, um den Beförderungsstau in der Armee aufzulösen. Es war keineswegs Führungsschwäche, welche die große Mehrheit der Offiziere veranlasste, die Gewaltexzesse ihrer Truppen zu dulden. Vielmehr stachelten sie, schon um ihre eigenen Aufstiegschancen zu verbessern, ihre Mannschaften fortwährend dazu an, die "Body Count"-Bilanz zu optimieren, und legten die "Rules of Engagement" entsprechend so aus, dass stets die vermeintliche militärische Notwendigkeit Vorrang vor der Rücksicht gegenüber der Zivilbevölkerung behielt.
Mit dieser Deckung, wenn nicht aktiven Komplizenschaft ihrer Vorgesetzten im Rücken konnten sich in den Kampfeinheiten diejenigen durchsetzen, die den militärischen Auftrag als Lizenz zum enthemmten Morden und Vergewaltigen verstanden. Unter den Belastungen des Dschungelkriegs in einem fremden Land gegen einen unsichtbaren Feind, permanent bedroht von einem "Instant Death" durch Sprengfallen oder Heckenschützen mutierten die im Durchschnitt Anfang zwanzigjährigen "Grunts" nach ihrer Ankunft binnen Wochen zu "Crazy Men", die in einer Mischung aus Selbstermächtigung, Angstabwehr und Racheimpulsen unterschiedslos gegen alle Vietnamesen wüteten, auf die sie bei ihren Kommandos trafen. Nur etwa zehn Prozent der in Vietnam eingesetzten US-Soldaten waren allerdings bei den Kampftruppen eingesetzt. Neben der von oben kommenden Forderung nach hohen "Kill Ratios", dem Konformitätsdruck unter den Soldaten, die während der Einsätze auf die Unterstützung ihrer Kameraden existenziell angewiesen waren und sich schon deshalb mehrheitlich den informellen Gruppennormen fügten, trug auch die auf allen Ebenen virulente rassistische Abwertung der vietnamesischen Bevölkerung zur Neutralisierung von Tötungshemmungen bei. Vorangetrieben wurde die Entgrenzung der Gewalt schließlich durch die Erfahrung absoluter Macht, die der Krieg in Vietnam den amerikanischen Soldaten gewährte: Die Möglichkeit, den "Gooks" straflos alles antun zu können, wirkte wie ein Sog, ihnen tatsächlich auch alles anzutun.
Ein Sog ist kein Zwang, und Greiner zeigt, dass es durchaus eine Minderheit unter den Soldaten gab, die sich an den Mordaktionen nur widerwillig beteiligten, sich ihnen zu entziehen suchten oder sich ihren marodierenden Kameraden in den Weg stellten. Aber er zeigt eben auch, warum diese von ihren Vorgesetzten und Kameraden verachteten (nicht selten auch physisch bedrohten), nach ihrer Rückkehr in die Heimat oftmals als Feiglinge und Verräter denunzierten Nonkonformisten eine Minderheit blieben. Weil für die amerikanischen Truppen in Vietnam die Entgrenzung der Gewalt zur Regel geworden war, verkehrte sich das Verhältnis von Norm und Abweichung: Deviant waren nicht die "heißen" Berserker und die "kalten" Tötungsarbeiter, sondern jene, die aus welchen Gründen auch immer dem Morden Grenzen zu setzen versuchten.
"Selbstlegitimierung zur Gewalt auf unterster Ebene, 'Body Count'-Manie in den mittleren Führungskadern, Kampf um politische Glaubwürdigkeit und militärisches Prestige auf Seiten des Oberkommandos in Washington und Saigon" - wie diese explosive Mischung im Kriegsgeschehen zum Tragen kam, das untersucht Greiner anhand von drei detaillierten Fallstudien: den Aktionen der Task Force Oregon und insbesondere einer Tiger Force genannten Sondereinheit in der Provinz Quang Nai im Jahre 1967, des Massakers von My Lai am 16. März 1968 und der Operation "Speedy Express", bei der zwischen November 1968 und April 1969 im Mekong-Delta knapp 11000 Menschen getötet wurden.
Greiner verbindet in diesen Fallstudien, und darin liegt vielleicht die wichtigste Leistung dieses gleichermaßen beeindruckenden wie bedrückenden Buchs, eine dicht an den Quellen gearbeitete Rekonstruktion des historischen Geschehens mit einer machtsoziologischen Reflexion auf die Dynamik kollektiver Gewalt, die sich weder in der Mikroperspektive des Handelns einzelner Akteure verliert noch bei strukturellen Erklärungsversuchen stehen bleibt und phänomenologische Genauigkeit nicht gegen analytische Durchdringung ausspielt. Er löst damit ein, was die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung bisher eher gefordert als geleistet hat: Gewaltereignisse und -prozesse präzise zu beschreiben und zugleich die Kräftekonstellationen, Motivlagen und Sinndeutungen sichtbar zu machen, die in ihnen wirksam sind.
Ulrich Bröckling