Andreas Meyer / Jürgen Schulz-Grobert (Hgg.): Gesund und krank im Mittelalter. Marburger Beiträge zur Kulturgeschichte der Medizin, Leipzig: Eudora-Verlag 2007, 373 S., ISBN 978-3-938533-11-6, EUR 34,90
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Das wissenschaftlich-historische Interesse an der mittelalterlichen Medizin hat in den letzten Jahren in bemerkenswerter Weise zugenommen. Wichtige Beiträge erschienen vor allem zur Hospital- und Seuchengeschichte des Hoch- und Spätmittelalters. Die einschlägigen Publikationen sind inzwischen zu zahlreich, um hier einzeln erwähnt zu werden. Bibliographische Übersichten finden sich, was die Hospitalgeschichte betrifft, in den von Michael Mattheus (2005) [1] und Gisela Drossbach (2007) [2] herausgebenden Bänden, zur Seuchen-, speziell Pestgeschichte dagegen, um zwei Übersichtswerke zu nennen, bei Mischa Meier (2005) [3] und Klaus Bergdolt (2006) [4]. Kay Peter Jankrift hat in seiner Monographie "Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter" (2005) [5] einen brauchbaren thematischen Querschnitt geliefert. Vor allem lokale Untersuchungen vermitteln, wie zahlreiche jüngere Aufsätze zeigen, interessante Erkenntnisse, gilt es doch ortspezifische Entwicklungen von (etwa durch die "Schulmedizin" oder weiträumige politische Vorgaben bestimmten) generalisierten, vielleicht sogar internationalen Trends zu unterscheiden.
Der interdisziplinär ausgerichtete Band, dessen Drucklegung durch die Unterstützung verschiedener privater Stiftungen möglich wurde, präsentiert eine bemerkenswerte methodische Vielfalt. Kunstgeschichtliche, sprachwissenschaftliche, literaturhistorische, volkskundliche und medizinhistorische Zugänge ermöglichen Sichtweisen, die von der Routine der Mittelalterforschung abweichen. Ungewöhnliche Themen überraschen, so der Beitrag von Antje Ziemann zur Leichenwäsche durch Mitglieder venezianischer Bruderschaften. Die Reinigung des Körpers verstorbener Soci gehörte zu den karitativen Verpflichtungen und stellte sozusagen die Fortsetzung der Sterbebegleitung post mortem dar. Der Vergleich mit anderen italienischen Kommunen zeigt, dass es sich um ein lokales Spezifikum handelt. Auch die Mittelalter-Rezeption in der Literatur der Gegenwart wird in zwei Beiträgen thematisiert: Anja Hill-Zenk analysiert Noah Gordon's "Medicus" (1987) und Celia L. Grace's "Heilerin von Canterbury" (1993) unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands zur mittelalterlichen Medizin, und Peter Dilg sichtet kritisch-bewundernd die Heilpflanzenkunde bzw. Giftlehre in Umberto Ecos "Der Name der Rose" (1980). Urte Helduser zeigt auf beeindruckende Weise die romantische Auffassung von Monsterwesen auf, aber auch die Unterschiede zwischen Klischeebildern und Wirklichkeit. Am Beispiel von Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame" demonstriert sie die von diesem vertretene "Ästhetik des Grotesken", die letztlich zu einer Aufwertung und einem neuen Verständnis der vermeintlichen Schattenseiten des Mittelalters führte. Der entstellte Körper und die Kathedrale werden bei Hugo in engem Bezug gesehen. Thomas Gloning, bekannt durch Studien über das 16. und 17. Jahrhundert, gelingt eine glänzende Analyse der Entstehung und sprachlichen Gestaltung deutschsprachiger Fachnamen von Kräuterbüchern vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (darunter des wohl ältesten deutschsprachigen, sogenannten "Prüller" Kräuterbuchs). Der umfassende Beitrag, der auch die Autoritätenanbindung bedeutender Renaissance-Autoren (Brunfels, Fuchs) sowie die Beziehung von Text und Bild zum Thema hat, wird sinnvoll ergänzt durch Jörg Rieckes Analyse des mittelalterlichen deutschen medizinischen Wortschatzes. Gerhard Aumüller untersuchte die sehr komplexe Struktur der ärztlichen Betreuung in den Hessischen "Hohen Hospitälern" des 16. Jahrhunderts. Esther Meier demonstriert in ihrem beeindruckenden Beitrag, wie Lepröse in der Betrachtung des Schweißtuchs der Veronika und anderer Darstellungen des Antlitzes Christi (vgl. Abgar-Legende) den Ersatz bzw. die Vorwegnahme des (den Armen Seelen im Fegefeuer, denen sie gleichgestellt wurden, verwehrten) Anblicks Gottes sahen. Der exzellente Beitrag von Andreas Meyer beschäftigt sich mit dem Alltag der Leprösen in Lucca im 13. Jahrhundert, der Praxis der Aussätzigenschau, der Finanzierung ihrer Häuser, ihrem rechtlichen Status usw., wobei die Differenziertheit des alltäglichen Lebens der Betroffenen vor Augen geführt wird. Die Quellen aus Luccheser Archiven sind im Anhang beigefügt. Horst Wolfgang Böhme versucht als Mittelalterarchäologe auf der Basis von Skelettanalysen Krankheiten, Verletzungen, Alter (auch Kindersterblichkeit), Geschlecht usw. zu bestimmen und z. T. sogar angewandte Therapieformen zu rekonstruieren. Eine extrem junge Alterszusammensetzung war für das frühe Mittelalter charakteristisch. Etwa 50 Prozent der Bevölkerung starben im Kindesalter. Francesco Roberg stellt das Antidotarium Nicolai und den Liber Antidotarius magnus vor, wichtige, in viele Sprachen übersetzte Arzneibücher des 12. Jahrhunderts, wobei es ihm gelingt, die Bedeutung dieser Werke in sehr klarer Sprache anschaulich zu machen und neueste Ergebnisse der Forschung einzubinden. Jürgen Schulz-Grobert liefert Beispiele von Arzt-Satire und -Komik in der mittelalterlichen Literatur, ein Thema, das bisher - ungeachtet der erwähnten Vorarbeit von Peter Wunderli - wenig erforscht wurde. Hier wurden im Früh- und Hochmittelalter Traditionen begründet, die sich bis zu Sebastian Brants Narrenschiff verfolgen lassen. Neben dem therapeutisch-lindernden Wert von Spott und Lacheffekten werden reichlich Beispiele von lächerlich erscheinenden Ärzten gezeigt, etwa solchen, die Schönheitsoperationen durchführen oder die Folgen der Defloration beseitigen. Eine eher kritische Grundhaltung gegenüber dem Ärztestand stand im Mittelalter außer Frage, was nicht ausschloss, dass im mittelhochdeutschen Alexanderroman, wie Ines Heiser zeigen konnte, der Arzt angesichts der Erkrankung des Königs trotz edler Absicht von Intrigen bedroht ist, ja zum Gegenspieler des Verräters Permenius wird, der die mit der Krankheit des Königs verbundene Krise des Gemeinwesens zu seinen Gunsten auszuschlachten versucht. Schließlich weist Jürgen Wolf auf den reichen Handschriftenbestand zur mittelalterlichen Medizin im Besitz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hin, der sich aus vielerlei Beständen rekrutiert und ein weites Forschungsfeld darstellt.
Das Buch, das auf den Beiträgen einer Marburger Tagung im Jahre 2005 basiert, erlaubt viele interessante und unkonventionelle Einsichten zur Medizin des Mittelalters und wird Historikern und Medizinhistorikern, die sich mit dieser Epoche beschäftigen, in vielerlei Hinsicht nützen.
Anmerkungen:
[1] Michael Matheus (Hg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (= Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Universität Mainz 56), Stuttgart 2005.
[2] Gisela Drossbach (Hg.): Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankreich, Deutschland und Italien. Eine vergleichende Geschichte (= Pariser Historische Studien 75), München 2007. Rezension in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8, http://www.sehepunkte.de/2007/07/11534.html
[3] Mischa Meier (Hg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005. Rezension in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 http://www.sehepunkte.de/2007/01/9678.html
[4] Klaus Bergdolt: Die Pest. Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006.
[5] Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Stuttgart 2005.
Klaus Bergdolt