M.A. Batunskij: Rossija i islam. [Russland und der Islam], Moskau: Progress-Tradicija 2003, 3 Bde., 1240 S., ISBN 978-5-89826-106-1
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Der Verfasser des hier zu rezensierenden Buches, Mark Abramovič Batunskij (gestorben 1997) gilt als einer der wichtigen sowjetischen Gelehrten, die sich auf die Geschichte der (russischen) Islamwissenschaft spezialisiert haben. Seine religionswissenschaftliche Ausbildung, seine außergewöhnlichen Sprachkenntnisse und seine philosophische Vorbildung ermöglichten ihm einen interdisziplinären und innovativen Forschungsansatz. Nachdem durch sein plötzliches Ableben eine Reihe von Untersuchungen unvollendet geblieben waren, hat seine Witwe, Eleonora Maksovna Batunskaya, mit Hilfe von Freunden und Kollegen den Nachlass soweit bearbeiten können, dass daraus ein sehr faszinierendes und anregendes Werk entstanden ist.
Der veröffentlichte Text ist in drei Bände gegliedert: "Die russische mittelalterliche Kultur als Grundlage von Genesis und Funktionsfähigkeit unterschiedlicher Modelle der theoretischen und pragmatischen Islambewertung" (10.-16. Jahrhundert), "Die russische Kultur und ihre Beziehungen zum Westen und Osten: Eine Erfahrung historisch-epistemologischer Rekonstruktion" (18.-Anfang 20. Jahrhundert) und "Die Entstehung und Dynamik einer professionellen säkularen russischen Islamwissenschaft (19.-20. Jahrhundert)".
Der große Wert des Buches liegt vor allem darin, dass es dem Autor gelingt, die komplizierte Entstehung und tausendjährige Entwicklung der Beziehung zwischen der russischen Gesellschaft und dem Islam und seinen Anhängern in philosophischen Begriffen zu fassen. Seine Studie überschreitet die Grenze der Orientalistik und begibt sich weit auf die Gebiete der Soziologie, Wissenschaftsgeschichte, Kodikologie, Literaturwissenschaft, vergleichende Religionswissenschaft, Politologie, Semiotik und Psychoanalyse. Auf diese Weise kann Batunskij die verschiedener Modelle der ideologischen und praktischen Bewertungen der Muslime und ihrer Religion analytisch erfassen. Dass es dabei durchaus auch zu groben Verallgemeinerungen kommt, mindert nicht den grundsätzlichen Wert der Abhandlung.
Batunskij geht davon aus, dass vor allem das am Ende des 10. Jahrhunderts von der russischen Gesellschaft über Byzanz erworbene Christentum in seiner griechisch-orthodoxen Variante, die die sakrale Beschaffenheit des Zarentums betonte, eine positive Wahrnehmung jedes 'Anderen' (auch der Katholiken!) erschwert hat. Diese dialogfeindliche Haltung vertiefte sich dann im Laufe der auch auf lange Sicht traumatischen 250jährigen tatarisch-mongolischen Fremdherrschaft.
Aber auch das seit Mitte des 16. Jahrhunderts von dem 'Mongolenjoch' befreite und nun nach Osten drängende russische Reich hielt sich weiterhin für den einzig wahren Träger der 'Gotteswahrheit', was die negative Wahrnehmung des Islam weiter speiste. Als Peter der Große Russland dann mit eiserner Hand 'auf die Hinterbeine' (na dyby, A. Puschkin) stellte, schien man den Anschluss an die offene, tolerante und rationalistische europäische Zivilisation gefunden zu haben. Das Verhältnis zu den muslimischen Untertanen blieb dennoch belastet und erfuhr keine grundlegende Neuorientierung. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts lehnte der größte Teil des russischen Volkes die Andersgläubigen ab und betrachtete sie als Fremde im russischen Reich. Ohne Zweifel war dies auch ein Resultat der bewussten ideologischen 'Bearbeitung' der Massen durch die orthodoxe Kirche. Hinzu kam, was Batunskij sicher zu wenig berücksichtigt, die Beschneidung der Möglichkeiten individueller Meinungsbildung durch den absolutistischen Staat.
Ein Schwerpunkt der von Batunskij vorgenommenen Untersuchung ist die Beschreibung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der russischen Islamwissenschaft als selbständige wissenschaftliche Disziplin. Die Entwicklung einer objektiven Haltung zum Islam, zu seinen Institutionen und zu seinen Anhängern erfolgte in einer langen Auseinandersetzung der geistigen Elite mit den Vertretern der kirchlichen Einrichtungen und den kolonialen Ambitionen und Interessen der Machtträger. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand eine weltlich-rationale und weitgehend nicht von ideologischen Vorgaben belastete Wissenschaft von der Erforschung des Islams. Nach und nach und nicht zuletzt mithilfe vieler Reisender, die zugleich Proto-Orientalisten waren (etwa: N. V. Chanykov, E. K. Meindorf, I. N. Berezin), wurden faktische Kenntnisse nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die gegenwärtige Lage 'eigener' und ausländischen Muslime gesammelt und analysiert. Nach Meinung von Batunskij führte diese Bewegung allmählich dazu, dass in den elitären Zirkeln der russischen Gesellschaft die Vorurteile über die Vertreter der islamischen Religion bis zu einem gewissen Grad abgebaut werden konnten. Mit der Intensivierung der wissenschaftlichen Kontakte mit dem Westen und mit dem Wirken so hervorragender Orientalisten wie Baron Viktor Romanovič Rozen (1848-1908) begann die Herausbildung eines Verständnisses vom Islam als selbständiges, einheitliches und entwickeltes religiös-kulturelles System, das aus sich selbst heraus verstanden und erklärt werden muss.
Seine Schlussfolgerungen zieht der Verfasser im dritten Band in erster Linie einerseits aus der (manchmal für den Leser durchaus erschöpfenden) Analyse der von Missionaren ('Pragmatikern') verfassten Schriften und Berichten (vorwiegend M. A. Miropiev), andererseits aus den Werken weltlicher Islamwissenschaftler ('Akademiker', u.a. V. V. Grigor'ev, V. R. Rozen, A. E. Krymskij und V. V. Bartol'd). Am Beispiel von Vasilij Vladimirovič Bartol'd (1869-1930) zeigt Batunskij überzeugend, wie ein russischer Orientalist Schritt für Schritt einen 'wissenschaftlich-kritischen' Ansatz zur Erforschung der Geschichte und Kultur des muslimischen Turkestan ausarbeitete. Die turkestanische Gesellschaft habe sich, so Bartol'ds Überzeugung, nach den gleichen Gesetzen wie die europäische entwickelt.
So sehr Batunskij die Errungenschaften von Bartol'd auch lobt, so kritisch betrachtet er andere Aspekte in seinem Werk. Vor allem bemängelt er seine zu sehr auf Empirie bedachten und häufig genug deterministischen Tendenzen. Bartol'd, Rozen und andere russische Islamkundler zeigten eine erstaunliche Treue zur evolutionistischen Theorie und rechtfertigten gar den russischen Kolonialismus als notwendige Aufgabe eines 'Kulturträgers' im Milieu 'niedrigstehender' oder 'unkultivierter' Völker. Darüber hinaus verweist Batunskij auch darauf, dass die russischen Orientalisten im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen große theoretisch-methodologische Defizite besäßen. Allerdings passen derartige Bewertungen kaum zu den 'kanonisierten' Gestalten der vorrevolutionären russischen Orientalistik.
Insgesamt gesehen kann Folgendes festgehalten werden: Die hier zu besprechende Arbeit ist in gar keinem Falle eine entspannende Lektüre. Vielmehr erfordert sie die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Nur durch eine große Konzentration auf die einzelnen Gedankengänge des Verfassers ist es möglich, sich in den schwierigen Forschungsansatz von Mark Abramovič Batunskij hineinzudenken und seinen Verästelungen zu folgen. An vielen Stellen ist eine strukturelle Unvollendetheit der Materialanordnung zu fühlen, nicht selten trifft man auf Wiederholungen, stilistische Fehler und eine überflüssige Vorliebe für abstrakte Schlussfolgerungen. Der Autor scheint darüber hinaus beinahe mit dem Leser eine Art Spiel zu betreiben, wenn es um terminologische Fragen und philosophische Andeutungen geht. Man möchte glauben, das dies alles, wie auch das Fehlen eines Vor- und Schlusswortes, eines Quellen- und Literaturverzeichnisses sowie eines korrekt gestalteten und gründlich durchgesehenen wissenschaftlichen Apparates (obwohl die Fußnoten auch in dieser Form die große Belesenheit des Autors zeigen) das unvermeidliche Ergebnis davon ist, dass der Verfasser es nicht geschafft hat, die Arbeit eigenhändig zur Veröffentlichung vorzubereiten. Aber wer sich in Geduld übt und mit gespitztem Stift in der Hand das Werk von Mark Abramovič Batunskij durchliest, schöpft daraus viel Neues und Nützliches sowohl bezüglich der Geschichte der öffentlichen Meinung im vorrevolutionären Russland wie auch hinsichtlich der Anfangsphase der russischen Orientwissenschaft.
Marsil N. Farkhshatov