Elke-Vera Kotowski (Hg.): Juden in Berlin. Biographien. Bd. 2, Berlin: Henschel 2005, 304 S., ISBN 978-3-89487-461-2, EUR 25,00
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Yair Mintzker: Die vielen Tode des Jud Süß. Justizmord an einem Hofjuden. Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Giuseppe Veltri / Christian Wiese (Hgg.): Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin: Metropol 2009
Mit dem hier zu besprechenden Band, der die Biographien Berliner Juden versammelt, erfährt eine im Jahre 2001 von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps und Hermann Simon herausgegebene Darstellung [1] ihre lexikalische Fortsetzung. Hervorgegangen ist das Kompendium aus zwei aufeinander folgenden Hauptseminaren, die von der Herausgeberin sowie von Julius H. Schoeps an der Universität Potsdam veranstaltet wurden und durch die sich der Autorenkreis von Studierenden und Doktoranden der Jüdischen Studien, der Geschichte, der Literatur- und Politikwissenschaft sowie der Soziologie und der Kunstgeschichte zusammenfand.
Bei der Auswahl der vorgestellten Personen waren drei Kriterien maßgeblich: Erstens wurden keine noch lebenden Personen aufgenommen, zweitens sollte die Biographie einen "hinreichenden Bezug" zu Berlin aufweisen und schließlich drittens in einem "jüdischen Kontext" zu verorten sein, womit auf die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung abgehoben wird. Darüber hinaus verfolgten die Autoren das Ziel, den Fokus der Darstellung nicht lediglich auf allseits bekannte Persönlichkeiten wie Moses Mendelssohn zu richten, sondern das Spektrum bewusst zu erweitern. So findet sich beispielsweise ein Eintrag zu der 1931 in Arnswalde geborenen und im Stadtteil Prenzlauer Berg aufgewachsenen Marion Samuel, die mit ihren Eltern im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurde.
Zeitlich spannt der Band einen Bogen vom 1573 hingerichteten Münzmeister Lippold bis hin zum 2004 verstorbenen Journalisten Max Kahane. Auf diese Weise ist ein beeindruckendes Spektrum von rund 2000 Biographien zusammengekommen, das den immensen Beitrag Berliner Juden in allen Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ebenso ahnen lässt wie den gewaltigen Verlust an Bürgerlichkeit, den die Shoa gerade in jener Stadt herbeiführte, in der sie erdacht wurde. So äußert sich in dem vorliegenden Band eine Rechercheleistung, die als Ergebnis einer Verbindung von Forschung und Lehre durchaus sympathisch ist.
Doch stellt sich gleichwohl die Frage, ob die so facettenreiche Geschichte der Juden in Berlin aus biographisch-lexikalischer Perspektive und im Rahmen der begrenzten Ressourcen eines studentischen Projekts überzeugend zugänglich zu machen ist. "Zusammengenommen", so heißt es in der Einleitung, sollen die Biographien "den Weg der Berliner Juden von den ersten Niederlassungen über die Emanzipation, die Akkulturation, die Ausgrenzung, das Exil, die Shoa bis zum (doppelten) Neuanfang in (West- und Ost-)Berlin" erkennbar werden lassen (7). Es sei dem Leben von Juden nachzuspüren, "die untrennbar mit der Berliner Stadtgeschichte" verbunden gewesen seien.
Hier hätte sich nach Ansicht des Rezensenten die Chance wenn nicht die Notwendigkeit ergeben, für die folgenden Einträge einen roten (bzw. Berlinischen) Faden auszulegen, um den Leser an die mit jener Untrennbarkeit zwangsläufig verbundenen Fragen näher heranzuführen. Denn was machte aus Juden in Berlin jüdische Berliner? Oder anders, nämlich aus der Binnenperspektive heraus formuliert: Was verband die Juden in Berlin jenseits zufälliger Wohnortwahl? Und schließlich: Was sagen uns ihre Lebenswege über den allgemeinen Gang der deutsch-jüdischen Geschichte? Nach Lektüre der Biographien sind es allerdings gerade diese Fragen, die offen bleiben. Reichen beispielsweise einige Semester an der Berliner Universität, um Karl Marx, dessen Namen man wohl eher mit Trier oder London assoziieren würde, als Berliner zu akquirieren? Oder fiel es einfach schwer, auf manch großen Namen zu verzichten?
Auf der anderen Seite fehlen gerade mit Blick auf die Frühe Neuzeit zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der Berliner jüdischen Gemeinde, was nicht ohne Folgen für das insgesamt gezeichnete Bild des Beziehungsgeflechts zwischen jüdischer Minderheit sowie christlicher Mehrheitsgesellschaft und Obrigkeit bleibt.
Dies gilt insbesondere für das 18. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte die preußische Hauptstadt immerhin zum Leitstern der jüdischen Aufklärung (Haskala) in Europa avancierte. Man sucht vergeblich die Mehrzahl der damaligen Gemeindeältesten wie Veit Singer, Hirsch David, Abraham und Jacob Marcuse, Abraham Salomon Nauen und Levin Lazarus Braunschweig. Selbst ein Schwergewicht wie Jacob Moses, der spätesten seit 1775 als Oberlandesältester der Judenschaft zweifellos zu den einflussreichsten Juden der gesamten Monarchie zählte, wurde vergessen.
Beinahe vollkommen abwesend ist zudem die gesamte ökonomische Spitzengruppe der Gemeinde (Meyer Benjamin Levy, Moses Ries, Joel Samuel Halle, Isaac Benjamin Wulff und andere). Dies ist nicht nur deshalb bedauerlich, weil dieser Personenkreis durch die wirtschaftshistorische Literatur relativ bequem hätte erschlossen werden können, sondern vor allem deshalb, weil seine Abstinenz eine Leerstelle hinterlässt, die weit über den ökonomischen Sektor hinausreicht. Dass die obrigkeitlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz auch im "Zeitalter der Aufklärung" weiterhin dem Primat utilitaristischer Zielsetzungen folgten, wird so kaum deutlich.
Ein prominentes Beispiel möge dies verdeutlichen. So taucht der Manufakturunternehmer Isaac Bernhard zwar im Artikel zu Moses Mendelssohn beiläufig auf, wird jedoch nicht mit einem eigenen Eintrag gewürdigt. Mendelssohn verdankte sein Bleiberecht in Berlin in Ermangelung eines Schutzbriefes jedoch nicht seiner Fähigkeit, schöne Bücher zu schreiben, sondern seiner Buchhaltertätigkeit in der Seidenmanufaktur Bernhards, welche sich allerhöchster Protektion erfreute. Männer wie Bernhard waren es, deren ökonomisches Gewicht maßgeblich dafür sorgte, dass sich in der preußischen Hauptstadt nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) trotz der restriktiven Judenpolitik jenes europaweit bestaunte "Haskala milieu" [2] herauszubilden vermochte, das Berlin so einzigartig machte.
Darüber hinaus weisen die Biographien zum Teil gravierende Mängel auf, wenn es um die 1780/90 einsetzende Emanzipationsdebatte geht, womit sich ein Schwachpunkt des ersten Bandes erneuert. Dies beginnt zum Teil mit einer bereits begrifflich problematischen Herangehensweise. Wer etwa Veitel Ephraim als "Vorsitzenden der preußischen Juden" bezeichnet, verstellt den Blick auf den Charakter des Oberlandesältestenamtes. Denn eine preußische Judenschaft als Gesamtkorporation hat es im Alten Preußen zu keinem Zeitpunkt gegeben.
So bewegte sich das Amt des Oberlandesältesten wie kaum eine andere Funktion innerhalb der Berliner (!) Gemeinde im Spannungsfeld von Autonomie und obrigkeitlicher Instrumentalisierung und stieß in zahlreichen Landjudenschaften der preußischen Monarchie auf erhebliche Widerstände.
Als vollends missglückt muss zudem der Eintrag zu einer so zentralen Persönlichkeit wie David Friedländer bezeichnet werden. Falsch ist etwa die Behauptung, der Tod Friedrichs des Großen im Jahre 1786 habe "eine umfassende Reformierung der preußischen Judengesetzgebung" ermöglicht, an deren "Spitze" Friedländer gestanden habe. An der Spitze der Judengesetzgebung stand jedoch erstens (wenn überhaupt) der König, und zweitens war von Reform angesichts der dilatorischen Haltung der Administration und der revolutionären Bedrohung bald kaum noch die Rede. Zwischen dem Tod Friedrichs und dem Erlass des Emanzipationsediktes gingen mehr als 25 Jahre ins Land. Von der Frustration, die der politische Stillstand bei Männern wie Friedländer hervorrief und die 1799 in das berühmte "Sendschreiben einiger Hausväter jüdischer Religion an den Probst Teller" mündete, erfährt man hingegen nichts.
Die Redaktion bittet in ihrem Vorwort um Ergänzungsvorschläge, Korrekturhinweise und Anmerkungen, so dass sich die Frage aufdrängt, ob nicht für eine als "work in progress" angelegte Datenbank das Internet ein passenderer Publikationsort gewesen wäre. Vielleicht ließe sich auf diese Weise auch die Verflechtung der geschilderten Lebensläufe mit Berlin deutlicher herausstellen.
Anmerkungen:
[1] Carl Josef Virnich: Rezension von: Andreas Nachama / Julius H. Schoeps / Hermann Simon (Hg.): Juden in Berlin, in: sehepunkte 2 (2002) Nr. 10, Berlin 2001. URL: http://www.sehepunkte.de/2002/10/2897.html
[2] Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770-1830, Oxford 1994, 5.
Tobias Schenk