Eric R. Dursteler: Venetians in Constantinople. Nation, identity, and coexistence in the early modern Mediterranean, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2006, 289 S., ISBN 978-0-8018-8324-8, USD 50,00
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Der US-amerikanische Historiker Eric R. Dursteler schließt mit "Venetians in Constantinople" seine langjährigen Forschungen zu venezianisch-osmanischen Beziehungen eindrucksvoll ab. Dieses Buch thematisiert den "nexus between identity and coexistence" (2) am Verhältnis zweier großer frühneuzeitlicher Seemächte des Mittelmeeres, der Seerepublik Venedig und des Osmanischen Reiches, zueinander. Vor allem im Levantehandel konnte Venedig bis ins 17. Jahrhundert seine angestammte Rolle als Handelsmacht und kulturelle Schnittstelle ("place of transition", 3) zwischen Mittel- bzw. Westeuropa und dem Osmanischen Reich behaupten. Die venezianische Diaspora aus Kaufleuten und Diplomaten in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches bietet hierbei ein ideales Objekt für eine kulturhistorische Fallstudie.
Entgegen einer langen historiographischen Tradition, die wesentlich die kulturelle Dichotomie der islamischen Welt der Osmantürken und der christlichen Venezianer hervorgehoben hat, knüpft Dursteler an jüngere Tendenzen der Forschung an. Dabei tritt die binäre Interpretation von Gegensätzen, Missverständnissen und Zerwürfnissen in den Hintergrund. Stattdessen operiert man mit differenzierten Modellen kultureller Interaktion. Das Verhalten der Seerepublik Venedig rechtfertigt diesen Ansatz: Denn die Venezianer entdeckten nach den schlechten militärischen Erfahrungen mit dem expandierenden Osmanischen Reich Mitte des 16. Jahrhunderts Diplomatie als Instrument zwischen Ausgleich und Ausspielen, indem sie bevorzugt die prekäre Balance zwischen Habsburg und den Osmanen hielten.
Durstelers Schlüssel zur Interpretation der veneto-osmanischen Beziehungen liegt in einem relationalen Identitätsmodell, das frühneuzeitliche Identitäten als einen komplexen Prozess, als flüchtige Grenzziehungen und als interaktiv veränderbares Bündel aus Versatzstücken begreift. Die von Zeitgenossen wie Pietro della Valle (Reiseberichte, publiziert 1650) eingesetzten taxonomischen Kategorien wie Religion, natio (Herkunft nach Geburt und Sprache) und soziale Hierarchien verweisen auf die soziale Konstruktion von Identität. Insbesondere merkantile und diplomatische Diasporen zeigen mehrschichtige Loyalitäten: Die Gemeinschaft ("community") der venezianischen natio offenbart zwischen ihrer formal institutionalisierten Zusammensetzung und ihrem kulturellen Gebrauch individuelle und kollektive Durchlässigkeiten.
Ebenso stringent argumentierend wie detailliert entfaltet Dursteler in fünf Kapiteln die institutionelle, soziale sowie kulturelle Beschaffenheit der venezianischen natio in Konstantinopel. Dabei markiert er Aktionsradien der in konzentrischen Kreisen um den bailo (den venezianischen Repräsentanten) versammelten Gruppen durch eine beispielhafte Auswahl von Einzelfällen. In einem letzten Kapitel charakterisiert er einen "Urban Middle Ground" anhand von unterschiedlichen, ineinander verzahnten Feldern kultureller Begegnungen. Bei der Beschreibung der im 16. und 17. Jahrhundert zahlenstärksten foreign community am Bosporus konzentriert er sich auf die verhältnismäßig lange Friedensperiode von 1573 bis 1645. Dursteler schöpft aus dem reichen Fundus venezianischer Archive und Bibliotheken: Neben den umfangreichen Korrespondenzen entsandter venezianischer Offizieller, vor allem mit den für die nationes verantwortlichen Cinque Savi alla mercanzia, analysiert er Gesandtschaftsrelationen, Familien- und Notariatsarchive.
Die Seerepublik Venedig, die seit den Handelsprivilegien von 1082 über eine Niederlassung in Konstantinopel verfügte, übte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Monopol im Levantehandel aus. Zwar bröckelte die Vormachtstellung der Venezianer um 1500, doch blieben sie bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die wichtigsten Handelspartner des Osmanischen Reiches. Im Stadtteil Galata befanden sich rund zehn Häuser venezianischer Kaufleute, der bailo umgab sich mit einem aus 50 bis 100 Personen bestehenden Haushalt. Den Kern der venezianischen natio machten die venezianischen Patrizier-Kaufleute aus, numerisch stärker war die Gruppe der Kaufleute und ihrer Faktoren aus den italienischen Gebieten Venedigs (terraferma). Symptomatisch für die Bezeichnung als "mercante veneziano" war eine Figur wie Girolamo Pianella um 1600, der in der Kaufmannsdiaspora eine führende Rolle übernahm und zugleich Steuerzahler an den Sultan war: Entscheidend war die Behandlung als venezianischer Kaufmann.
Die irregulären Mitglieder ("unofficial nation", 25) der venezianischen Nation bestanden vor allem aus banditi (Exilierten, die ihre Geschäfte in der Levante trieben), Sklaven und Griechen. Während die banditi ihre Situation durch Anpassung zu bessern suchten, übernahmen gerade befreite Sklaven oft die Rolle kultureller Vermittler. Im 16. Jahrhundert lebten im stato da mar rund 480.000 Griechen, die das Rückgrat des venezianischen Handelsimperiums bildeten und von denen bis zu 3000 in Konstantinopel lebten. Zudem fungierte Venedig als Protektorin des lateinisch-katholischen Glaubens im stato da mar (den venezianischen Besitzungen im Mittelmeer und seinen Küsten).
Beispielhaft für die multikulturelle Komplexität des Mittelmeerraumes waren insbesondere Juden und Renegaten. Als Vermittler gewannen jüdische Kaufleute im 17. Jahrhundert eine Schlüsselposition, die sie aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft durch ihre "altering identity" (105) erlangten. Konvertiten besaßen verschiedenartige Motive für ihren Glaubenswechsel: Sie wurden wie Ibrahim Paşa zu vermittelnden, kulturellen Grenzgängern. Auf den aus Dalmatien stammenden Mann, der durch seine Freundschaft zum Sultan Süleyman ein einflussreiches Netzwerk aufbauen und zum Großwesir aufsteigen konnte, ist Venedigs Vermittlerrolle bei den Verhandlungen zwischen den Habsburgern und der Hohen Pforte in den 1520er und 1530er Jahren zurückzuführen. Auffällig bei diesen Sondergruppen ist die Tendenz, die eigene Verwandtschaft als primäres Bezugssystem zu wählen. Dolmetscher (die so genannten dragomani) und Kaufleute in ihrer Ausbildungszeit benutzten Rechtssysteme und politische Affiliationen, um Karriere zu machen.
In einem abschließenden Kapitel widmet sich Dursteler eingehend verschiedenen Bereichen kultureller Überschneidungen. Besonders in den Nachbarschaftsbeziehungen im Stadtteil Pera und in der Vigne di Pera (der ursprünglich außerhalb Galatas gelegene, vorstädtische Bezirk) erwiesen sich identifikatorische Grenzen als durchlässig. Sozioökonomische Strukturen waren wesentlich bedeutender als die jeweilige natio oder Religionszugehörigkeiten. Im Bereich des Handels verblassten Identitäten zugunsten merkantiler Netzwerke. Entgegen üblicher Vorurteile zeigte sich die osmanische Elite als Gruppe aktiver Kaufleute, die wie Çelebi Mehmed Reis aus Ankara ihre Faktoren nach Venedig schickten. Osmanische Beamte investierten in Geschäfte, so dass sie an merkantile Netzwerke anknüpften und ihr Geld mit der Vergabe staatlicher Aufträge verdienten. Die Anzahl der sensali (Makler) für den veneto-osmanischen Handel in Venedig stieg im 16. Jahrhundert an, venezianische und osmanische Kaufleute gaben wechselseitig Kommissionsgeschäfte in Auftrag. Soziale und persönliche Beziehungen, Konversion und Migration, der maritime Arbeitsmarkt und religiöse Rituale erzeugten in der venezianischen natio in Konstantinopel Atmosphäre und Praxis interkultureller Begegnungen und Gemeinsamkeiten.
Dursteler legt auf nur 185 Seiten inhaltlich konzentriert, in anschaulicher Sprache eine qualitativ ungewöhnlich ausgereifte und gelungene Darstellung der Venezianer in Konstantinopel als kulturhistorische Studie frühneuzeitlicher Identitäten vor. Der in Anhänge verbannte wissenschaftliche Apparat mit Glossar, Indizes und Bibliographie erstreckt sich auf rund hundert Seiten. Dursteler entwickelt alle Beispiele aus den eigenen archivalischen Quellen, verkoppelt sie mit der Forschungsliteratur und argumentiert mit aktuellen theoretischen Überlegungen zum Thema interkultureller Begegnungen. Einzig die Abbildungen in der Mitte des Buches stehen eigentümlich isoliert da. Dennoch kann dieses Buch als gutes Beispiel moderner Geschichtsschreibung dienen und zugleich als Referenzwerk für den venezianischen Levantehandel gelten.
Heinrich Lang